Seit 1986 schützt der Gesetzgeber bestimmte Biotoptypen per Gesetz. Zu ihrem Schutz bedarf es nicht wie bei Naturschutzgebieten eigens einer ausdrücklichen Unterschutzstellung per Verordnung, sondern wenn ein bestimmter Biotoptyp vorhanden ist, ist er automatisch gesetzlich geschützt. Diese Regelung war damals eine große positive Neuerung für den Naturschutz. Der Bundesgesetzgeber hat sich zu ihr durchgerungen, weil die von der Regelung erfassten Biotoptypen nur einen kleinen einstelligen Prozentanteil der Landfläche Deutschlands umfassen.
Ihr strikter Schutz sollte mithin zu verschmerzen sein, handelt es sich doch durchweg um sehr seltene und überdies hochgradig gefährdete Lebensraumtypen, beispielsweise Moore, Sümpfe, Auwald, Sandmagerrasen, Nass- und Salzwiesen. Zudem kann dieser Schutz in vordringlichen Fällen – wie etwa dem Hochwasserschutz – ausnahmsweise überwunden werden.
Einige dieser gesetzlich geschützten Biotoptypen befinden sich auch auf oder an Deichen. Das betrifft insbesondere solche Deiche, die in den nächsten Jahren ausgebaut werden sollen. Und genau darin liegt für niedersächsische Landespolitiker offenbar ein Ärgernis. Ein Ärgernis, dem sie im September 2022, kurz vor der niedersächsischen Landtagswahl, den Garaus gemacht haben. Die Mehrheit der Abgeordneten hat nämlich diesen Biotoptypen kurzerhand den gesetzlichen Schutz aberkannt. Ihre Zerstörung oder erhebliche Beeinträchtigung ist von jetzt an im Interesse der Deicherhaltung ganz ohne Ausnahmeverfahren erlaubt. Die Folgen sind weitreichend, denn die Deicherhaltung umfasst auch die Erhöhung, Verstärkung und Verlängerung der Deiche. Fachleute schätzen die von solchen Maßnahmen künftig betroffenen Biotope auf mehrere Hundert Hektar.
Betroffen sind auch Biotoptypen, die nach dem Naturschutzrecht der Europäischen Union einem strengen Schutz unterliegen. Insofern steht nicht nur die Vereinbarkeit dieser eigenwilligen Neuregelung mit dem Bundesnaturschutzgesetz, sondern auch mit dem Europäischen Recht infrage. Schon deshalb befürchten Kritiker, dass die Gesetzesänderung die Rechtssicherheit gefährdet und geradezu kontraproduktiv ist für ein Mehr an Deichsicherheit, mit der die Gesetzesänderung begründet worden ist. Mit der Aufhebung des Schutzes habe man dem Hochwasserschutz in Wirklichkeit einen Bärendienst erwiesen. Zudem steht die Gesetzesänderung im krassen Widerspruch zu dem in Niedersachsen von Landesregierung und Naturschutzvereinigungen als Teil des sog. „Niedersächsischen Weges“ vereinbarten Biotopverbund.
Aber die Kritik ist noch grundlegender, stellt sich doch die Frage nach Sinn und Zweck der Neuregelung, denn schon in der Vergangenheit setzte sich – zu Recht – der Hochwasserschutz gegen den Biotopschutz durch. Kritiker sehen in der Neuregelung deshalb blanken Aktionismus.
Mit diesem wollten die Politiker bei unbedarften Küstenbewohnern mit Naturschutzressentiments punkten und sich bei den Wasser- und Deichverbänden einen guten Fuß machen. Allerdings wollen diese Verbände noch mehr: nämlich die Freistellung von Baumaßnahmen an Deichen von der naturschutzrechtlichen Eingriffs-Ausgleichsregelung, die für die Zerstörung von wertvollen Biotopen ausgleichende Naturschutzmaßnahmen verlangt. Die Grünen in der neuen sozialgrünen niedersächsischen Landesregierung hätten allen Grund, gegen den von SPD und CDU durchgesetzten Abbau des gesetzlichen Biotopschutzes anzugehen. Im Koalitionsvertrag der beiden Regierungsparteien SPD und Grünen liest man dazu immerhin: „Die naturschutzrechtlichen Regelungen zum Biotopschutz an Deichen werden wir im Dialog mit Wasser- und Umweltverbänden prüfen“. Was wie ein Hoffnungsschimmer klingt, könnte sich allerdings als eine neue handfeste rotgrüne Bedrohung erweisen.