Schwarzbau Umgehungsstraße Bensersiel: Kläger einigt sich mit Stadt – Straße jetzt legal?

Mitten durchs Vogelschutzgebiet: „Schwarzbau“ der „kommunalen Entlastungsstraße“ in Bensersiel/Stadt Esens, im Hintergrund der Windpark Utgast/Gemeinde Holtgast- Foto (C): Manfred Knake

Bearbeitet am 18. Nov. 2020

Es liest sich wie ein Krimi: Seit 2003 begleitet der Wattenrat Ostfriesland den geplanten und später durchgeführten Bau der Umgehungsstraße in Bensersiel/Stadt Esens in einem damals faktischen und heute gemeldeten europäischen Vogelschutzschutzgebiet (V63, Ostfriesische Seemarschen von Norden bis Esens). Schon damals hatte er vor der Rechtswidrigkeit des Baus öffentlich gewarnt. Zunächst hatte das Land Niedersachsen das „faktische“ Vogelschutzgebiet, das alle fachlichen Kriterien für eine Meldung nach Brüssel erfüllte, aus allein wirtschaftlichen Gründen nicht an die EU-Kommission gemeldet. Das ist ein Verstoß gegen die Natura-2000-Richtlinien. Daraufhin legte der Wattenrat mit einem Fachgutachten erfolgreich Beschwerde bei der EU-Kommission ein, das Gebiet musste nachgemeldet werden.

Der Dortmunder Landeigentümer und erfolgreiche Kläger, auch zunächst zu Unrecht für den Straßenbau enteignet, hatte Kenntnis von den Wattenrat-Unterlagen und klagte in einem Normenkontrollverfahren bis vor das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig und bekam 2014 mit einem Urteil Recht: Der zugrunde liegende Bebauungsplan Nr. 67 der Stadt Esens sei „rechtsunwirksam“, weil er gegen die EU-Vogelschutzrichtlinie verstoßen habe. pdf: BVerwG_2014_Presse_und_Urteil

Ein erstes Verfahren vor dem OVG Lüneburg hatte der Kläger zunächst verloren, weil der Prozessbevollmächtigte der Stadt Esens, Prof. Dr. Bernhard Stüer, vor dem Gericht unrichtige Aussagen machte und das Bestehen eines faktischen Vogelschutzgebietes verneinte. Prof. Stüer hat inzwischen seine Zulassung als Anwalt verloren, er wurde in einer anderen Rechtssache wegen „Parteiverrats“ rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten auf Bewährung verurteilt.

Schließlich musste Straße für den öffentlichen Verkehr nach einem Urteil des Verwaltungsgerichts Oldenburg wirksam gesperrt werden, wirksam deshalb, weil die Stadt Esens die Straße zunächst nur halbherzig mit Schildern „gesperrt“ hatte, die oft ignoriert wurden. In der Stadt Esens indes bastelte man unverdrossen weiter an einem neuen Bebauungsplan Nr. 89, um den Straßenbau nachträglich legalisieren zu können. Der Kläger wurde lange nicht entschädigt und kündigte noch vor wenigen Wochen an, nötigenfalls bis zum Europäischen Gerichtshof gegen den neuen B-Plan zu klagen. Eine Klageschrift wurde im September 2019 von einer Dortmunder Kanzlei vorbereitet und dem Oberverwaltungsgericht in Lüneburg für ein weiteres Normenkontrollverfahren vorgelegt.

„Andauerndes rechtsuntreues Verhalten“ der Stadt Esens

Das Verwaltungsgericht Oldenburg führte 2017 im Urteil gegen die Stadt Esens (Az 5 A 2233/16) im Zusammenhang mit der vom Landeigentümer beklagten zunächst unzureichenden minimalistischen Straßensperrung aus: „Angesichts des über Jahre andauernden rechtsuntreuen Verhaltens der Beklagten [=Stadt Esens] ist nicht auszuschließen, dass sie ihr rechtsuntreues Verhalten fortsetzen bzw. bei nächster Gelegenheit wieder aufnehmen wird.“ Wie weitsichtig und wahr.

Unzureichende minimale Sperrung der Ortsumgehung Bensersiel, nicht ganz ernst gemeint? Das Schild wurde mit einer Smiley-Folie überklebt, von wem? Foto (C): Manfred Knake

Alles auf null? Gerichtsurteil gilt nach wie vor

Nun ist plötzlich alles anders: Am 30. Oktober 2020 einigten sich der Kläger und der Stadtdirektor von Esens, Harald Hinrichs, mit einem Notarvertrag eines Wittmunder Anwalts. Die Stadt Esens kaufte dem Landeigentümer, der Teilflächen der Umgehungsstraße nach dem Leipziger Urteil besaß, diese mit einem namhaften Betrag ab. Der Kläger zieht dafür die anhängige Klage vor dem OVG Lüneburg gegen den neuen B-Plan Nr. 89 im Gegenzug zurück. Mit dem Kauf wird die Stadt Esens jetzt vollständige Eigentümerin der Straßentrasse und geht damit davon aus, die Straße mit dem neuen B-Plan 89 legalisieren und für den Verkehr öffnen zu können. Man ist in der Esenser Verwaltung der Auffassung, ein Vertrag mache das legal, was immer noch illegal ist: ein Straßenbau in einem europäischen Schutzgebiet, geschützt durch die rechtsverbindlichen Natura-2000-Richtlinien der EU. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aus 2014 wird damit nicht gegenstandslos. Auch ein neuer Bebauungsplan, der jetzt trickreich die Straßenplanung bei null wieder neu auflegen soll – trotz bereits bestehender illegal gebauter Straße – ist rechtlich fragwürdig, dazu gibt es bereits Urteile und das sog. „Normwiederholungsverbot“ nach der Verwaltungsgerichtsordnung. Gerichte müssten entscheiden, ob der nun eingeschlagene Weg der Stadt Esens rechtens und der neue B-Plan Bestand haben kann. Nur fehlt jetzt ein Kläger. Und wo kein Kläger ist, da gibt es bekanntlich auch keinen Richter. Da die Kommunalaufsicht vom Land Niedersachsen bis hinunter zum Landkreis Wittmund der kommunalen Nachsicht gewichen war – die Bezirksregierungen als Kontrollbehörde wurden 2004 in Niedersachsen aufgelöst und die Zuständigkeiten auf den lokalen Klüngel der Landkreise übertragen -, darf man davon ausgehen, dass in Esens weitergewurschelt wird, am lästigen Recht und Gesetz vorbei, Augen zu und durch, weitermachen wie bisher, mit einem „über Jahre andauernden rechtsuntreuen Verhalten der Beklagten … ist nicht auszuschließen, dass sie ihr rechtsuntreues Verhalten fortsetzen bzw. bei nächster Gelegenheit wieder aufnehmen wird.“, siehe oben.

Bildzitat: Anzeiger für Harlingerland/Wittmund/NDS, Seite 1, 23. April 2009. Mit dabei: Der damalige nieders. Landtagspräsident Hermann Dinkla (CDU), Heimatadresse im LK Wittmund, der damalige Landrat des LK Wittmund, Henning Schultz (CDU) und der inzwischen im Ruhestand lebende Stadtdirektor Jürgen Buß aus Esens

5,4 Millionen Fördergelder ohne Rechtsgrundlage, ein Fall für den Statsanwalt?

Auch die Bewilligung und Verwendung der 5,4 Millionen Euro Fördermittel (Steuergelder) für den Straßenbau ist ein Skandal. Damals gab es die Auflage, dass die Förderung nur dann bewilligt werden durfte, wenn keine Normenkontrollverfahren anhängig waren. Gegenüber dem Land Niedersachsen hatte die Stadt das anhängige Gerichtserfahren des Landeigentümers und Klägers laut Klageschrift der Dortmunder Kanzlei gegen den damaligen Bebauungsplans Nr.67 verschwiegen und dadurch Fördergelder von 5,4 Millionen Euro beantragt und auch erhalten, obwohl man in der Stadt wusste, dass ihr dieses Geld wegen des anhängigen Normenkontrollverfahrens und der bekannten „planungs- und eigentumsrechtlichen Hindernisse“ nicht zustand. Darüber gibt es ein Protokoll der Stadt Esens vom 06. März 2007.

Durch diese Falschinformation der Stadt wurde erreicht, dass im April 2009 mit dem rechtswidrigen Straßenbau begonnen werden konnte. Hätte ein Gericht einen Subventionsbetrug festgestellt, wäre dies eine Straftat, die mit bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe oder Geldstrafe geahndet werden könnte, ein Fall für die Staatsanwaltschaft. Aber auch hier: keine Prüfung durch die Kommunalaufsicht, stattdessen politisches Einvernehmen von Hannover über Wittmund bis nach Esens, vulgo politischer Filz, Klüngel und Kumpanei. Niemand wurde bisher für die widerrechtliche Verwendung der Fördergelder qua Amtshaftung zur Verantwortung gezogen. Insgesamt entstand dem Steuerzahler für den rechtswidrigen Straßenbau im Schutzgebiet ein Schaden von ca. neun Millionen Euro, einschließlich der Anwalts- und Gerichtskosten, plus   Kaufpreis für die Straßenflächen des Landeigentümers. Das Interesse der Medien an diesem Skandal ist bisher nicht erkennbar.

Umgehungsstraße Bensersiel im europäischen Vogelschutzgebiet V63- google earth

Bensersieler Ortserweiterung gescheitert

Die Straßenplanung war ursprünglich so konzipiert, dass die freien Flächen zwischen der Umgehungsstraße und dem südlichen und westlichen Ortsrand von Bensersiel der Bebauung zugeführt werden sollten. Geplant von der Stadt Esens war, die landwirtschaftlich genutzten Flächen günstig zu kaufen und als teures Bauland weiterzuverkaufen. Durch das inzwischen ausgewiesene Landschaftsschutzgebiet im Vogelschutzgebiet können diese Planungen nun nicht mehr umgesetzt werden.

Was sagen die „anerkannten“ und klagebefugten Naturschutzverbände?

Nun wären eigentlich die zahlreichen „anerkannten“ und damit klagebefugten Naturschutzverbände wie z.B. BUND oder NABU am Zuge, um über die EU-Kommission bis zum Europäischen Gerichtshof die Einhaltung geltenden europäischen Naturschutzrechts in Bensersiel einzufordern. Ob das aber geschehen wird, wird vom Wattenrat bezweifelt. Der Wittmunder NABU-Kreisvorsitzende war Vorsitzender des Bau- und Umweltausschusses der Stadt Esens und stimmte 2003 für den Bau der Umgehungsstraße. Die Stadt Esens betreibt mit dem NABU-Niedersachsen in gemeinsamer Trägerschaft das „Wattenhuus“ in Bensersiel, in dem über den angrenzenden Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer informiert wird. Diese Verbände, abhängig von Projektfördergeldern des Landes Niedersachsen, blieben schon beim Repowering des Windparks Utgast in der Samtgemeinde Esens direkt am selben Vogelschutzgebiet stumm. Die neuen höheren Anlagen, deren Auswirkungen weit in das Vogelschutzgebiet hineinreichen, wurden zu nah und rechtswidrig ohne ausreichende Erhebungen von vorgeschriebenen Vogel- und Fledermausdaten (behördlich bestätigt NLWKN_Stellungnahme_Utgast) von der Baubehörde des Landkreises im Sinne der Betreiber genehmigt.  Auch dort sind die gesetzlichen Grundlagen bekannt. Am rechtsstaatlichen Handeln in diesem Lande sind also berechtigte Zweifel angebracht, nicht nur beim Natur- und Artenschutz.

Links:

Juli 2017: Reloaded: Chronologie der Umgehungsstraße Bensersiel, Teil 2

06. Nov. 2020: Leserbrief von Arno Nerschbach, ehemaliges Stadtratsmitglied in Esens, im Anzeiger für Harlingerand

15. Nov. 2020: exit-esens: Umgehungsstraße-Abspann

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