Alle Jahre wieder wird in Ostfriesland mit Beginn der Jagdsaison gegen die hier überwinternden arktischen Gänse gehetzt, in wechselnder Besetzung. In diesem Jahr trafen sich Politiker, Landwirtschaftsfunktionäre und Jäger, um ihre abstrusen Vorstellungen von der Regulierung der Gänse sogar in den EU-Vogelschutzgebieten der Öffentlichkeit zu unterbreiten, und haben dabei Naturschutzfachliches völlig außer acht gelassen.
Die Akteure
In Oldendorp im Rheiderland, ganz im Nordwesten der Republik, kamen zusammen: Stefan Wenzel (Bündnis 90/Die Grünen, Umweltminister in Niedersachsen), Johanne Modder (Fraktionsvorsitzende der SPD im Niedersächsischen Landtag, die zusammen mit jagenden SPD-Parteigenossen erfolgreich die Initiative von Wattenrat und Gänsewacht zur Einstellung der Zugvogeljagd in EU-Vogelschutzgebieten torpedierte,
http://www.wattenrat.de/2014/03/30/gansejagd-fakten-statt-jagerpropaganda-spd-bremst-ganseschutz/ ), Meta Janssen-Kucz (Bündnis 90/Die Grünen, Mitglied des Niedersächsischen Landtags, Landesvorsitzende von B90/Die Grünen in Niedersachsen), Matthias Groote (SPD; früher Vertriebsingenieur bei Enercon, dann Mitglied des Europäischen Parlaments, seit kurzem Landrat in Leer), Klaus Borde (Landwirtschaftlicher Hauptverein), Hero Schulte (Jäger, Friesischer Verband für Naturschutz und ökologische Jagd) und Jenny Daun (Erste Kreisrätin, Leer).
Der Nordwesten Niedersachsens ist nun einmal, auch wegen des ständig hochgelobten aber wegen seiner vielfältigen Nutzung maroden „Weltnaturerbes“ Wattenmeer (das aber nur touristisch vermarktet wird), das Überwinterungsgebiet von arktischen Gänsearten. Diese Flächen gehören seit Jahrtausenden zum Jahreslebensraum der Tiere: Brutareale im hohen Norden, Überwinterung u.a. an den klimatischen milderen Küsten Mitteleuropas. Dieser Um- und Zustand verpflichtet nach den Natura-2000-Richtlinien der Europäischen Union die Mitgliedsstaaten zur Erhaltung und Verbesserung dieser Lebensräume, eigentlich.
Geldforderungen statt Argumente
Ständig finden landwirtschaftlichen Subventionsweltmeister mit ihrer Gänsehetze in die Presse, immer wieder gerne genommen mit ihren lamentierenden und noch mehr Geld fordernden „Argumenten“. Statt auch Fachwissenschaftler an solchen Treffen zu beteiligen, wird unverhohlen der Zugvogeljagd das Wort geredet.
Die Ignoranten der Politik äußern sich anbiedernd und faktenblind bei Bauernfunktionären und der organisierten Freizeit-Jägerschaft zu Zugvögeln, offensichtlich bar aller Kenntnisse der Gegebenheiten der Landschaftsveränderung und -zerstörung für die Zugvögel: Die enorme Intensivierung der Landwirtschaft und Zerstörung von Gänsehabitaten durch Windparks. Das Problem sind nicht die Gänse, sondern die Industrielandwirtschaft mit Massentierhaltung und großem Silagebedarf, und da setzt die EU bisher nicht „nachhaltig“ an.
In diesem Zeitungsbeitrag der „Rheiderland Zeitung“ aus Weener (Link: RZ, 19. Nov. 2016: Pilotprojekt soll Gänse erziehen, mit freundlicher Genehmigung) äußern sich die wahren Populisten im Lande. Schon jetzt bekommen Bauern, wenn sie am Vertragsnaturschutz teilnehmen, bis zu 250 Euro/ha/a Schadensausgleich, aber egal ob Schäden aufgetreten sind oder nicht, und sie wollen mehr Geld, nur darum geht´s! Niemand bezweifelt, dass rastende „Wild“gänse Schäden am Grünland oder Getreide verursachen können, aber die gilt es ordentlich mit Fachleuten zu ermitteln. Dennoch machen Bauern in Ostfriesland bis zu vier Grasschnitte pro Jahr – trotz oder wegen der Gänse -, in sehr guten Jahren sogar fünf, und bringen genauso oft Gülle in enormer Menge auf diese Flächen auf, und rotten dabei gleichzeitig die brütenden Wiesenvögel wegen der frühen Mahd mit aus. Oft sind auch Fraßschäden gar keine: Bodenverdichtung mit Staunässe, hervorgerufen durch schwere landwirtschaftliche Maschinen oder einfach nur Frost lassen Schäden am Grünland oder an der Saat entstehen. Wo anderswo Frostschäden klar benannt wurden, logen ostfriesische Landwirtschaftsfunktionäre schon mal den Gänsen die Schäden in die Schnäbel. (Link: http://www.wattenrat.de/2012/03/23/schaden-am-wintergetreide-fras-oder-frost/ )
Merke: Gegen gewisse mentale Defizite kämpfen bekanntlich selbst die Götter vergebens.
Rot-Grün in Niedersachsen: Naturschutz nur auf dem Papier.
Stefan Wenzel (Grüne, Umweltminister Niedersachsen) stellt am Anfang des Artikels in der „Rheiderland Zeitung“ zwar keine kurzfristige Maßnahmen gegen die „negativen Auswirkungen“ der rastenden Zugvögel in Aussicht, fordert aber später die Landwirte auf, die bestehenden Möglichkeiten der Jagd auf Wildgänse zu nutzen. „Das kann man sofort machen.“ Dabei sollte man gerade jetzt die Jagd auf Wasservögel ganz einstellen, um die „Vogelgrippe“ durch Anfassen evtl. geschossener infizierter Kadaver und das Weitertragen in Haustierbestände nicht weiter zu verbreiten. In Mecklenburg-Vorpommern herrscht deswegen bereits bis Januar 2017 Jagdruhe auf Vögel, nicht aber in Niedersachsen!
Klaus Borde (Landwirtschaftlicher Hauptverein) meint: „Wir dürfen nicht mehr so viel Rücksicht auf die Gänse nehmen und müssen sie auf ein verträgliches Maß dezimieren.“ Er will großflächige Vergrämungen der Nonnengans, damit sie „den Vogelzug wieder lernt“. Ist dieser Bauer ein Gänseflüsterer oder nur nicht ganz gesund?
Matthias Groote (SPD, vormals Vertriebsingenieur bei Enercon, dann Mitglied des Europäischen Parlaments und nun neuer Landrat in Leer) meint, dass „die Nerven blank liegen“ und betont, dass schleunigst Ideen her müssen. „Wir brauchen eine große Lösung!“ Eine kurzfristige Jagdfreigabe für Nonnengänse könne helfen, meint er und sagt, dass EU-Umweltkommissar Karmenu Vella in dieser Hinsicht offen sei. Aha, da nutzt er doch gleich seinen kurzen Draht nach Brüssel. Er propagiert die Rolle rückwärts des Naturschutzes, zurück in die Zeiten von Pulver und Blei.
Johanne Modder aus dem Rheiderland (SPD, Fraktionsvorsitzende im Niedersächsischen Landtag) sagt, dass die Landwirte vor dem Kollaps stehen, Ausgleichszahlungen nicht ausreichend sind und droht mit Vollaufstallung statt Weidehaltung, was aber nicht gewollt sei. Sie faselt von „Verkotung“ durch die Gänse, hat aber wohl die enorme Güllefracht auf dem Grünland, die inzwischen bis ins Grundwasser gelangt, noch nicht gesehen und gerochen. Sie erweckt den Eindruck, dass bei fehlender Gänsebejagung bald keine Kühe mehr auf den Weiden zu sehen sein werden! Das ist jetzt schon vielerorts in den Massentierstallungen so der Fall, ganz ohne Gänse. Und vor dem finanziellen Kollaps stehen viele Landwirte wegen der Abschaffung der Milchquote und der daraus resultierenden Milchschwemme, die sie selbst gewollt haben.
Jenny Daun (Kreisrätin LK Leer) erklärt, dass auch Landwirte außerhalb der Schutzgebiete betroffen seien und sich die Gänse nicht nur in die Vogelschutzgebiete aufhalten. Vielleicht sollte man mal Schilder für die Gänse aufstellen: „Flugroute zum Vogelschutzgebiet, kacken verboten“.
Hero Schulte (Friesischer Verband Naturschutz und ökologische Jagd) toppt alles und schießt auch verbal den Vogel ab. Er meint, man solle morgens am Dollart, wenn die Gänse die Schlafplätze im Watt (Großschutzgebiet und „Weltnaturerbe“!) verlassen, die V-Formationen sprengen, dann würden sich die Gänse auf das gesamte Rheiderland verteilen. Wo hat der Mann seinen Jagdschein gemacht? Der Mann ist bewaffnet und läuft frei herum. Erstens gilt die Jagd an Schlafplätzen als „unwaidmännisch“ und zweitens fliegen Gänse nur auf dem Zuge in V-Formationen. Wenn sie die Schlafplätze in Richtung Nahrungsflächen verlassen, fliegen sie in ungeordneten Ketten.
Meta Janssen-Kucz (Grüne, MdL) kam in diesem Artikel wohl nicht zu Wort, sie lächelte nur in die Kamera, ob „wissend“ oder „peinlich berührt““ wurde nicht berichtet.
Eigentum verpflichtet
Eigentum verpflichtet nach dem Grundgesetz, das gilt auch für Bauern, die bereits Kompensationszahlungen erhalten, egal ob Fraßschäden aufgetreten oder nicht. Von diesen blinden Akteuren ist kein fachlicher Naturschutz zu erwarten; rot-grün im Niedersächsischen Landtag geriert sich inzwischen noch katastrophaler im Naturschutz als die Vorgängerkoalition mit dem notorischen Umweltminister Hans-Heinrich Sander (FDP).
Gänsewacht wieder aktiv
Und unser Mitstreiter Eilert Voß steht mit seinen Mitstreitern derzeit wieder auf Gänsewacht und dokumentiert an einem Natur- und EU-Vogelschutzgebiet an der Ems das Verhalten der Hobbyjäger, die neben den Landwirten als einzige das Schutzgebiet zum Zwecke des Tötens betreten dürfen. Er berichtete gerade wieder von Jagdverstößen, bei denen bei dichtem Nebel in überfliegende Gänsetrupps geschossen wurde. Bei diesem Licht sind die Arten nicht sicher ansprechbar. Nicht wenige Jäger kennen nur „Wild“gänse und können die jagdbaren von den nicht jagdbaren Arten nicht sicher unterscheiden.
Nachsatz: Die Selbstdarstellung des oben erwähnten Friesischen Verbandes für Naturschutz und ökologische Jagd sagt eigentlich alles:
„Wir sind die friesischen Fachleute vor Ort. Und ohne uns gäbe es diese schöne, an Naturschätzen reiche Nordseeküstenlandschaft nicht!“
Die kommen also gleich nach dem lieben Gott. Das sind aber die, die als Industrie-Bauern und Hobby-Jäger für den gewaltigen Artenschwund bei Pflanzen und Vögeln mitverantwortlich sind, sehr gut auch an der ostfriesischen Küste zu beobachten, an der „Friesen“ nur noch dem Wort nach wohnen. Das sieht eher nach einem Lobbyverband im Naturschutzmantel aus, der noch mehr Geld für tatsächliche oder vermeintliche Fraßschäden durch Gänse haben und vor allem auf Zugvögel schießen will!