Von Manfred Knake
Prolog: Eingaben an Behörden verlaufen in der Regel „form- frist- und fruchtlos“.
Nun ist es amtlich und genehmigt: Der rot-grün regierte Landkreis Wittmund erteilte am 25. April 2024 die Genehmigung für das Sport-Großereignis der Friesensportler-Europameisterschaften (Klootschießen und Boßeln) in Teilen des europäischen Flora-Fauna-Habitat- und Vogelschutzgebietes V63 „Ostfriesisches Seemarschen von Norden bis Esens“.
Die Sponsoren sind: Alterric-Windenergie, Edeka, Jever-Brauerei, Neuharlingersieler Versicherung, Raiffeisen-Volksbank und Volkswagen. Die Veranstaltung findet in der Gemeinde Neuharlingersiel/Samtgemeinde Esens mit hunderten Sportlern und ankündigten tausenden Zuschauern statt und dauert vom 09. bis zum 12. Mai, also mitten in der Brutzeit. O-Ton auf der WebSeite der Gemeinde Neuharlingersiel: „Friesensport-Spektakel“.
Der Vorsitzende des Friesischen Klootschießerverbandes (FKV) ist Helfried Götz (parteilos), Bürgermeister von Friedeburg/LK Wittmund. Das Programm der Veranstaltung konnte ab 23. März 2024 online abgerufen werden, also bereits einen Monat vor der erteilten Genehmigung.
Die Lokalpresse wie der „Anzeiger für Harlingerland“ berichtete darüber am 04. Mai, unter weitgehender Verwendung der Pressemitteilung des Landkreises Wittmund vom 03. Mai, die hier abgerufen werden kann. Der „Anzeiger“als Lokalausgabe der Nordwest Zeitung in Oldenburg bezeichnet sich als „Medienpartner der Europameisterschaften“, da kann also die eigentlich gebotene journalistische kritische Distanz nicht erwartet werden.
Vorgeschichte verschwiegen
Nur wurde die Vorgeschichte verschwiegen, die auch die anderen Lokalzeitungen mehrfach per Mail-CC von mir zur Kenntnis bekommen haben, und die geht so: Bereits im Juni 2023, also vor einem Jahr, habe ich den Landkreis Wittmund als Untere Naturschutzbehörde auf die Konfliktsituation zwischen Klootschießer-EM und dem Vogelschutzgebiet aufmerksam gemacht – und nie eine Antwort erhalten. Daraufhin habe ich am 03. April 2024 eine Eingabe an das Niedersächsische Umweltministerium (MU) gemacht, mit CC-Kopie an die EU-Kommission. Eine Mitarbeiterin des MU forderte daraufhin den Landkreis Wittmund auf (!), Stellung dazu zu nehmen. Am 03. Mai teilte mir die Sachbearbeiterin des Ministeriums das Ergebnis per Mail mit (u.a.):
„Hinsichtlich möglicher Einschränkungen der Schutzziele des VSG wurde seitens des Landkreises eine Verträglichkeitsvorprüfung vorgenommen und untersucht, ob die Tatbestände erfüllt sind, die zum Erfordernis einer Verträglichkeitsprüfung nach § 34 Bundesnaturschutzgesetz führen. Dieser Verträglichkeitsvorprüfung lagen Brutvogelkartierungen zu Grunde, welche in den Jahren 2019, 2020 und 2023 zur Vorbereitung der Sportveranstaltung durchgeführt wurden. Diese explizit auf das Veranstaltungsgelände bezogene, dreijährige Brutvogelerfassung wurde bereits bei vorbereitenden Gesprächen in 2018 zwischen dem Landkreis und dem Veranstalter abgestimmt. […] Zudem wurde auf die Ergebnisse der Erhebungen der staatlichen Vogelschutzwarte von 2012 zurückgegriffen. Für die Beurteilung von möglichen Störungen wurde eine Überprüfung möglicher Beeinträchtigungen der speziellen Erhaltungsziele für die wertbestimmenden Arten sowie der allgemeinen Erhaltungsziele gem. § 2 Abs. 6 und 7 der Verordnung für das LSG 25 „Ostfriesische Seemarsch zwischen Norden und Esens“ (Vogelschutzgebiet 63) erarbeitet. Da das Ergebnis der Verträglichkeitsvorprüfung ergab, dass erhebliche Beeinträchtigungen nachweislich ausgeschlossen werden konnten, ist eine vertiefende FFH-Verträglichkeitsprüfung nach § 34 Bundesnaturschutzgesetz nicht erforderlich. Weder für das Gastvogel- als auch für das Brutvogelvorkommen im VSG ist von einer erheblichen Beeinträchtigung durch die Veranstaltung auszugehen. Auch wenn aufgrund der Voruntersuchungen nicht davon auszugehen ist, wird der Veranstalter in den Nebenbestimmungen der Zustimmung des Landkreises Wittmund zudem dazu verpflichtet, das Gelände der Disziplin „Dutch Moors“ vor Beginn des Übungstrainings sowie vor Beginn des Wettkampfes von qualifiziertem Fachpersonal untersuchen und dokumentieren zu lassen. Abschließend lässt sich festhalten, dass dem Umweltministerium eine vollumfängliche und schlüssige naturschutzfachliche Zustimmung zur Veranstaltung auf Grundlage einer Verträglichkeitsvorprüfung durch den Landkreis Wittmund bezüglich Ihrer Anfrage vorgelegt wurde.“
Formal, aber nur formal, mag das schlüssig klingen, nur gibt es einige Ungereimtheiten: Die Planungen für die Veranstaltung laufen laut Umweltministerium schon seit 2018, die Veranstaltung wurde zudem schon im Frühjahr 2023 per Internet angekündigt und beworben, auch in der Presse, als noch keine Genehmigung vorlag. Die Plakatierung ist an den Straßen seit Wochen zu sehen, incl. der Sponsoren. Üblicherweise wird eine Veranstaltung erst dann beworben, wenn sie genehmigt ist, erst dann werden die Vorbereitungen getroffen, und nicht umgekehrt.Und: Warum wurde keine konfliktfreie Wettkampffläche auf Grünland außerhalb des Schutzgebietes gewählt. War die Deichkulisse am Nationalpark Wattenmeer ausschlaggebend?
„Fabrizierte“ Vor-Verträglichkeitsprüfung? Zweifel sind erlaubt – Oder: das Kaninchen aus dem Hut:
Das lässt für mich die Vermutung und den Schluss zu, dass wieder einmal im Landkreis getrickst und eine „passende“ Vor-Verträglichkeitsprüfung nachträglich kurz vor dem Beginn der EM nach meiner kritischen Eingabe an das MU fabriziert und wie das berühmte Kaninchen aus dem Hut gezaubert wurde. Eine Großveranstaltung dieser Art mit hunderten Sportlern und tausenden Zuschauern kann in einem Schutzgebiet nicht „verträglich“ sein!
Die Wettkampffläche im Schutzgebiet grenzt unmittelbar an einen deichparallelen kilometerlangen Graben mit beidseitigem Schilfbewuchs an, Brutplätze von Rohrsängern und Blaukehlchen ( = streng geschützte Vogelarten, deshalb ist es u.a. Schutzgebiet!); ob die unscheinbaren und kaum bekannten Vögel hunderte oder gar tausende lärmende Zuschauer tolerieren werden, ist fraglich. Wenn bereits bebrütete Nester verlassen werden, kühlen die Gelege aus und die Brut ist verloren.
Die Parallelen
Es gibt Parallelen im LK Wittmund: Bei der illegal gebauten Umgehungsstraße Bensersiel/Stadt Esens im damaligen „faktischen Vogelschutzgebiet“ gab es überhaupt keine Verträglichkeitsprüfung, der Landkreis (und das Umweltministerium!) hatten als Aufsichtsbehörde alle Augen zugemacht. Dem Steuerzahler entstand mit den Anwaltskosten dadurch ein Schaden in zweistelliger Millionenhöhe. Dann das Repowering des Windparks Utgast/Gem. Holtgast direkt am Vogelschutzgebiet V63, ebenfalls ohne die erforderliche Datenerhebung von Vögeln und Fledermäusen, einfach durchgewunken und genehmigt. Das nenne ich, meine persönliche Meinung, „das System Wittmund“, nach meinem Eindruck Augen zu und durch, illegal, scheißegal, es wird schon irgendwie funktionieren.
Es drängt sich zudem der Eindruck auf, dass die rechercheschwachen Lokalzeitungen als Hofberichterstatter der Lokalpolitik die Handlanger oder Herolde dieser Dreistigkeiten sind: das systematische Verschweigen unbequemer Zusammenhänge. So las sich auch staatstragender DDR-Journalismus; auch in diesem Falle hat nicht die Partei, sondern der Landkreis mit seinem politischen Klüngel immer recht.
Nachsatz: Auch bei anderen aktuellen Vorfällen blieb der „Anzeiger für Harlingerland“ stumm: Über den Eingriff in das europäische Vogelschutzgebiet V63 durch Baumfällungen mit schwerem Gerät für einen Hotelneubau in Ostbense wurde ebenfalls nicht berichtet; der verschwundene besenderte und später tot und geschreddert im Windpark Utgast aufgefundene Seeadler fiel auch unter den Redaktionstisch, ebenso die Neuauflage eines geplanten Golfplatzes im immer noch „faktischen Vogelschutzgebiet“ inmitten des VSG V63 in Neuharlingersiel. Da fragt man sich doch, welche Absprachen mit wem es in der Redaktion gibt. Das „Kartell des Schweigens“.
Letzter Satz: Die stets in Kopie informierten Naturschutzverbände, u.a. NABU und BUND in Niedersachsen, reagierten ebenfalls nicht.
Nachtrag 08. Mai 2024:
Am 08. Mai berichtete die Ostfriesen Zeitung (online) aus Leer ausführlich über die Wattenrat-Kritik am Austragungsort im Vogelschutzgebiet, allerdings im Detail nicht ganz korrekt. Aber immerhin, die Nummer ist nun presseöffentlich geworden:
Ostfriesen Zeitung:
„Naturschützer empört über Wettkampfstrecke durchs
Schutzgebiet
Von Melanie Hanz | 08.05.2024 16:06 Uhr
Der Wattenrat Ostfriesland wirft dem Landkreis Wittmund vor, er habe bei der Wettkampfstrecke für die Boßel-EM „getrickst“. Der Landkreis Wittmund hält dagegen. […] Knakes Ansicht nach hätte die naturschutzfachliche Prüfung deutlich früher, nämlich vor der Planung der Boßel-EM, vorliegen müssen, „und nicht erst eine Woche vor Beginn der Veranstaltung“. So stellt es der Landkreis dar Tatsächlich standen die untere Naturschutzbehörde beim Landkreis Wittmund und die Organisatoren der Boßel-EM bereits 2018 in Kontakt, als es erste Überlegungen des Friesischen Klootschießer-Verbands zur Ausrichtung der Meisterschaft gab, heißt es von der Kreisverwaltung. „Die Naturschutzbehörde wies bereits in diesem Termin auf die Notwendigkeit umfangreicher Untersuchungen zur Vorbereitung einer FFHVerträglichkeitsvorprüfung hin“, schreibt Jan Becker vom Landkreis Wittmund auf Nachfrage unserer Zeitung.[…]“
Kritikpunkt war in diesem Falle aber nicht die naturschutzfachliche Prüfung, die ohnehin nur eine landkreisinterne Vorprüfung war, sondern die Genehmigung der Veranstaltung im europäischen Vogelschutzgebiet nur 14 Tage (nicht eine Woche, was in diesem Falle unerheblich ist) vor der Veranstaltung. Dass es eine Verträglichkeits-vor-prüfung gab, wurde erst laut Pressemitteilung des Landkreises vom 03. Mai bekannt. Eine umfangreiche Verträglichkeitsprüfung nach § 34 Bundesnaturschutzgesetz fand nicht statt. In der OZ wurde nicht berichtet, dass NACH meiner Eingabe beim Niedersächsischen Umweltministerium (MU) vom 03. April der Landkreis Wittmund vom MU aufgefordert wurde, Stellung zu meiner Eingabe zu nehmen. Erst nach meiner Eingabe und der Aufforderung der Stellungnahme durch das MU wurde dann am 03. Mai (also einen Monat später) aus der Pressemitteilung des Landkreises bekannt, dass die Veranstaltung im Vogelschutzgebiet am 25. April, also drei Wochen nach meiner Eingabe beim MU, genehmigt wurde, nur zwei Wochen vor Beginn der Europameiterschaft.Und: Bis heute hat kein Pressevertreter mit mir direkten Kontakt in der Sache aufgenommen.
Der OZ-Artikel (online) vom 03. Mai greift die Wattenrat-Kritik an der Verträglichkeitsvorprüfung korrekt auf:
Ostfriesen Zeitung:
„Acht Tage vor dem Start steht fest – Friesensportler stören die
Vögel nicht
Von Melanie Hanz | 03.05.2024 13:35 Uhr |
[…] Wattenrat zieht Prüfung in Zweifel
Laut Mitteilung aus der Kreisverwaltung hat die untere Naturschutzbehörde zur
Verträglichkeitsvorprüfung Brutvogelkartierungen herangezogen, die in den Jahren 2019, 2020 und 2023 zur Vorbereitung der Sportveranstaltung durchgeführt wurden. Das Ergebnis sei, dass die Boßel-EM die Natur und Vogelwelt im Schutzgebiet nicht erheblich stört. Deshalb könne auf eine vertiefende Verträglichkeitsprüfung nach § 34 Bundesnaturschutzgesetz verzichtet werden. Der Wattenrat Ostfriesland, eine Interessengemeinschaft ostfriesischer Naturschützer, bezweifelt unterdessen das Ergebnis der Verträglichkeitsprüfung. „Ich habe den Eindruck, dass hier bei der Planung der Veranstaltung die Natura-2000-Auflagen entweder aus Unkenntnis oder bekannter Ignoranz missachtet wurden und nun im Hauruck-Verfahren nachträglich nur formal korrekt eine Genehmigung erteilt wurde“, teilte Manfred Knake am Freitag mit. Ihn macht stutzig, dass die Zustimmung zur Sportveranstaltung aus naturschutzfachlicher Sicht erst eine Woche vor der Veranstaltung erteilt wurde, „obwohl an der Veranstaltung seit mehr als einem Jahr geplant wurde“. Knake: „Die Zustimmung hätte aber schon vor der Planung der Veranstaltung vorliegen müssen, nicht erst eine Woche vor Beginn der Veranstaltung.““Bearbeitet und ergänzt am 09. Mai 2024