Eigentlich ein Dauerbrenner, der die politische Ignoranz gegenüber dem europäischen Naturschutzrecht zeigt: Schon wieder leitete die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland ein, bereits 2015 und 2006 hatten wir das beim Wattenrat auf dem Schirm: hier und hier.
Ohne Übertreibung kann man sagen, dass Deutschland eines der europäischen Schlusslichter bei der Umsetzung der für die Mitgliedsstaaten vorgeschriebenen FFH- und Vogelschutzrichtlinie ist, und Schlusslicht im Naturschutz. Diese „Richtlinien“ sind keine unverbindlichen Empfehlungen, sondern im englischen Originaltext „Directives“, haben also Gesetzescharakter. Nun hat die EU-Kommission schon wieder einen „Blauen Brief“, die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens Richtung Deutschland, abgeschickt. Mehr hier, übernommen von der Europäischen Gesellschaft zur Erhaltung der Eulen“ (EGE):
EU-Vogelschutzrichtlinie: Blauer Brief aus Brüssel
16. März 2024
Die EU-Kommission hat am 13. März 2024 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet: Das Land habe die Maßnahmen zur Erhaltung wild lebender Vogelarten gemäß der aus dem Jahr 1979 stammenden Vogelschutzrichtlinie nicht hinreichend realisiert. Für fünf Vogelarten fehle die Ausweisung der für diese Arten zahlen- und flächenmäßig geeignetsten Gebiete. Für 220 von 742 bestehenden Schutzgebieten seien noch keine Erhaltungsmaßnahmen festgelegt worden. Nach Ansicht der Kommission reichen die von Deutschland innerhalb und außerhalb des Netzes der Schutzgebiete ergriffenen Maßnahmen bislang nicht aus, um die Anforderungen der Richtlinie zu erfüllen. Deutschland habe darüber hinaus das Schutzgebiet „Unterer Niederrhein“ nicht ausreichend geschützt. Deutschland hat nun zwei Monate Zeit, auf das Aufforderungsschreiben zu reagieren. In diesem Zusammenhang lohnt der Rückblick auf den Kommentar, den die EGE zum 40. Geburtstag der Europäischen Vogelschutzrichtlinie schrieb – das war vor fünf Jahren:
„In diesem Jahr wird die Europäische Vogelschutzrichtlinie 40 Jahre alt. Sie war eine Reaktion auf die schon damals – nicht zuletzt als Ergebnis der gemeinsamen Agrarpolitik – dramatischen Verluste biologischer Vielfalt. Die Richtlinie verlangt vom Mitgliedstaat einen durchgreifenden Schutz aller einheimischen Vogelarten und für die Erhaltung bestimmter Brut- und die regelmäßig auftretenden Zugvogelarten die Einrichtung strenger Vogelschutzgebiete – nämlich die Unterschutzstellung der für diese Arten „zahlen- und flächenmäßig geeignetsten Gebiete“. Deutschland muss deshalb für gut hundert der 250 hier vorkommenden Brutvogelarten solche Schutzgebiete einrichten – die für Zugvögel wichtigsten Vermehrungs-, Rast-, Mauser- und Überwinterungsgebiete eingeschlossen.
Die Deutschen haben von dieser Richtlinie erst Notiz genommen als sie, der Unterschutzstellung dieser Gebiete nach Jahrzehnten säumig, mit Mahnschreiben und Vertragsverletzungsverfahren der Europäischen Kommission konfrontiert waren. Eingelöst hat Deutschland die Verpflichtungen nur schleppend und bis heute eklatant unzureichend. Zwar sind jetzt gut zehn Prozent der Landfläche als Vogelschutzgebiete benannt, doch durchgreifend unter Schutz gestellt ist immer noch eher nur die Minderzahl der Gebiete. Der Rückgang der Feld- und Wiesenvögel wurde selbst in den Vogelschutzgebieten nur ausnahmsweise gestoppt, weil sich die staatlichen Stellen auch dort scheuen, die landwirtschaftliche Nutzung an Auflagen zu binden. In vielen Fällen steht der Schutz nicht einmal auf dem Papier und sind die Verluste dramatisch – beispielsweise von Bekassine, Kampfläufer, Kiebitz, Uferschnepfe, Grauammer, Feldlerche und Rebhuhn.
Für diesen fortgesetzten Bruch des Gemeinschaftsrechts hat sich die öffentliche Berichterstattung damals so wenig interessiert wie heute am 40. Jahrestag der Richtlinie. Zwischen Fridays for Future, Insektensterben und Dieselskandal ist über das Ereignis bestenfalls verhalten berichtet worden und eine substantiierte Reflexion erwartungsgemäß ausgeblieben. Geburtstagsgeschenke gab es keine. Dabei hätte sich der Vogelschutz schon über Ehrlichkeit gefreut. Bis heute wird der rechtlich bindende Charakter der Richtlinie verkannt, als könne man sich nach ihr richten oder nicht. Dass sich die Situation einer Vielzahl Vogelarten in den letzten 40 Jahren verschlechtert hat, bleibt zumeist ungesagt oder wird – ganz gegen die Fakten – dem Klimawandel zugeschrieben. Allerdings könnte die Vogelschutzrichtlinie vor ihrem 50. Geburtstag noch einmal für Schlagzeilen sorgen – nämlich infolge eines neuen Vertragsverletzungsverfahrens. Für einen Fortschritt bedarf es offenbar der Verurteilung und drohenden Strafzahlung. Der Tag wird kommen, aber nicht alle Vogelarten werden ihn erleben.“