Übernahme des Textes mit freundlicher Genehmigung der Redaktion Cicero, Magazin für politische Kultur, erschienen am 21. Dezember 2021 unter diesem Link:
Energiepolitik der Ampel – Was hat Windkraft mit öffentlicher Sicherheit zu tun?
Der Koalitionsvertrag der rot-gelb-grünen Regierung sieht vor, den Bau von Anlagen zur Gewinnung von Strom aus erneuerbaren Energien zur Frage der öffentlichen Sicherheit zu erklären. Das kann einzig dazu dienen, das Umweltrecht der Europäischen Union zu umgehen – namentlich die europäische Vogelschutzrichtlinie.
VON RICO FALLER am 21. Dezember 2021
Der Koalitionsvertrag sieht zahlreiche Klimaschutzmaßnahmen vor, die unterschiedlich ansetzen und wirken. Würde man eine Bewertungsmatrix mit tatsächlichen und rechtlichen Eignungskriterien erstellen, erhielte man eine gute Streuung: von geeigneten Maßnahmen bis zu solchen, die sowohl rechtlich als auch tatsächlich wenig geeignet sind und mehr schaden als nutzen. Letzteres betrifft vor allem die Absicht, gesetzlich festzuschreiben, dass die Errichtung von Anlagen zur Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Energien nicht nur im öffentlichen Interesse liegt (was in der Rechtspraxis längst anerkannt ist), sondern auch der öffentlichen Sicherheit dient.
Weshalb man das für sinnvoll hält, ergibt sich weder aus dem Koalitionsvertrag, noch wird das sonst konkret erläutert. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass es dafür keine Gründe gibt, die auf einer rationalen und evidenzbasierten Klimapolitik beruhen. Eine solche Politik müsste Maßnahmen, denen die Wissenschaft sehr viel größere Wirksamkeit bescheinigt, deutlich mehr Aufmerksamkeit widmen. Dass dieser Weg nicht eingeschlagen wird, ist Ausdruck eines von Affektheuristiken geprägten Aktionismus. Der Umgang mit dem Passus „öffentliche Sicherheit“ im Koalitionsvertrag ist dafür symptomatisch.
Trojaner im Koalitionsvertrag?
Bei dem Begriff „Trojaner“ denkt man (jedenfalls bei der digitalen Variante des Trojanischen Pferdes) an ein Programm, welches harmlos aussieht, aber dann, wenn es heruntergeladen oder geöffnet ist, erheblichen Schaden anrichtet. Einen solchen Trojaner enthält der Koalitionsvertrag. Er verpflichtet die Koalitionsparteien dazu, gesetzlich festzuschreiben, dass die Errichtung von Anlagen zur Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Energien der öffentlichen Sicherheit dient. Dieser Ansatz ist nicht neu. Bereits Ende 2020 gab es eine Gesetzesinitiative („EEG Novelle 2021“), die eine solche Regelung vorsah. Sie wurde letztlich aber wieder aus dem Entwurf gestrichen.
Die Absicht, eine solche Bestimmung gesetzlich zu verankern, hat seinen Grund im Umweltrecht der Europäischen Union. Während dies in dem damaligen Gesetzentwurf noch im Einzelnen erläutert wurde, fehlt nun eine Erklärung. Weshalb, liegt auf der Hand: Man hat sich daran erinnert, wie schädlich Transparenz für ein politisches Projekt sein kann. Denn dann hätte man erläutern müssen, dass dieser Passus dazu dient, die Tötung von europäischen Vogelarten vor allem durch Windenergieanlagen zu ermöglichen. Dabei handelt es sich um Arten, die nach der Vogelschutzrichtlinie der Europäischen Union geschützt sind. Diese Richtlinie – an die jeder Mitgliedstaat, also auch die Bundesrepublik Deutschland, strikt gebunden ist – akzeptiert nur in engen Ausnahmefällen die bewusst in Kauf genommene Tötung geschützter Arten. Ein solcher Ausnahmefall liegt beispielsweise dann vor, wenn die Tötung im Interesse der öffentlichen Sicherheit liegt. Gemäß Richtlinie soll dann ausnahmsweise der Belang des Artenschutzes zurückstehen und dies auch nur dann, wenn es keine andere zufriedenstellende Lösung gibt.
Wenn nun in der Bundesrepublik Deutschland (also nicht in anderen Mitgliedstaaten und auch nicht im Unionsrecht) gesetzlich vorgegeben wird, dass erneuerbare Energien der öffentlichen Sicherheit dienen, wird den zuständigen Behörden ein Instrument an die Hand gegeben, mit dem insbesondere immissionsschutzrechtliche Genehmigungen für Windenergieanlagen auch an Standorten erteilt werden, an denen dies aus Naturschutzgründen eigentlich nicht in Betracht kommt. Da die Genehmigungsbehörden an eine solche gesetzliche Regelung gebunden wären, müssten sie Ausnahmen vom Tötungsverbot erteilen. Zwar sieht das Bundesnaturschutzgesetz (nicht die Vogelschutzrichtlinie) schon jetzt die Möglichkeit vor, Ausnahmen zu erteilen, wenn dies aus „zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses“ erforderlich ist. Dieser Ausnahmegrund ist aber in der Vogelschutzrichtlinie gerade nicht vorgesehen, weshalb der Europäische Gerichtshof bereits mehrfach entschieden hat, dass die Auflistung der Ausnahmegründe in der Richtlinie abschließend zu verstehen ist und nicht einzelne Mitgliedstaaten abweichend davon weitere Ausnahmegründe hinzuzufügen dürfen. Auch das Bundesverwaltungsgericht hat sich insofern kritisch geäußert und Zweifel an der deutschen Gesetzeslage angemeldet.
Abbau des Biodiversitätsschutzes
Um diesem Problem auszuweichen, haben die Koalitionsparteien nun vereinbart, an einen anderen Ausnahmegrund anzuknüpfen, nämlich die öffentliche Sicherheit, da dieser Ausnahmegrund im Unionsrecht ausdrücklich anerkannt ist. Die Koalitionsparteien möchten also über das Vehikel der öffentlichen Sicherheit in den Anwendungsbereich eines unionsrechtlich vorgesehenen Ausnahmegrundes gelangen und definieren daher diesen Begriff so, dass man damit das gewünschte Ergebnis erreicht.
Flankiert wird die beabsichtigte Gesetzesänderung dadurch, dass laut Koalitionsvertrag eine „stärkere Ausrichtung auf den Populationsschutz“ stattfinden soll. Das ist Politikersprache und bedeutet im Klartext einen Abbau des durch den Green Deal und die Biodiversitätsstrategie der Europäischen Union gewährleisteten Biodiversitätsschutzes. Auch, dass im Koalitionsvertrag bei der „Schutzgüterabwägung“ ein „befristeter Vorrang für erneuerbare Energien“ gesetzlich vorgegeben werden soll, ist mit dem Umweltrecht der Europäischen Union wohl nicht zu vereinbaren. Das entspricht auch nicht dem, was das Bundesverfassungsgericht in seinem Klima-Beschluss vom 24. März 2021 entschieden hat. Ein pauschaler Vorrang ohne Einzelfallbetrachtung ist unangemessen und führt zu Fehlsteuerungen wie beispielsweise zu Anlagen an naturschutzrechtlich wertvollen, aber windschwachen Standorten (die sich allenfalls durch Subventionen rechnen). Kombiniert mit diesen Maßnahmen soll der Passus „öffentliche Sicherheit“ dazu führen, kollidierende Raumnutzungsansprüche systematisch zu Lasten des Biodiversitätsschutzes zu bewältigen. Kommuniziert wird das freilich nicht.
Man kann das als notwendiges Übel ansehen, um einen Beitrag für den Kampf gegen den Klimawandel zu ermöglichen. Das ist aber viel zu einfach gedacht und lässt grundlegende Erkenntnisse unberücksichtigt. Nur einige wenige sollen hier kurz beleuchtet werden:
Der Befund, dass Windenergie bereits einen Anteil von etwa 25% der Stromerzeugung ausmacht, erweckt aus mindestens zwei Gründen einen falschen Eindruck. Zum einen ist der Bezugspunkt dieser Betrachtung, die Stromerzeugung, ungeeignet, wenn es um das Ziel der CO2-Reduktion geht. Denn damit wird eine relativ kleine Bezugsgröße gewählt, mit der Folge, dass der Windenergieanteil größer erscheint als bei einem Abstellen auf die Primärenergiequellen. Da es um das Ziel der CO2-Reduktion geht, sollte ehrlicherweise auf den Anteil an den Primärenergiequellen, also auf Sonne, Wind, Kernbrennstoffe, Kohle, Mineralöl und Erdgas, abgestellt werden. Hier beträgt der Anteil der Windenergie bei derzeit bundesweit etwa 30.000 Anlagen lediglich 4%. Will man alle nicht-erneuerbaren Primärenergiequellen durch Windenergie ersetzen, so werden dafür weitere 600.000 Anlagen benötigt; auf die Fläche der Bundesrepublik umgelegt wäre das eine Anlage pro 0,5 km². Auch ist zu berücksichtigen, dass ein noch so starker Ausbau keine sichere Grundlast zur Verfügung stellen kann (Problem der Dunkelflauten) und deshalb Back-up-Kraftwerke benötigt werden, die gegenläufig zum Wind- und Sonnenstrom herauf- und heruntergefahren werden müssen. Oder es muss durch Kernenergie gewonnener Strom aus Frankreich importiert werden. Beides zusammengenommen, also der enorme Unterschied zwischen Energiebedarf und Windenergieerzeugung und das Dunkelflauten-Problem, pulverisiert den Nutzen, den man sich von dem Projekt verspricht, Windenergieanlagen auch an naturschutzrechtlich problematischen Standorten zu errichten.
Auch den Wirtschaftswissenschaften zuhören
Auch die Berücksichtigung wirtschaftswissenschaftlicher Erkenntnisse führt zu einem ernüchternden Befund. Deutschlands CO2-Ausstoß beträgt etwa 2% des Weltausstoßes, ist also äußerst gering. Auf den ersten Blick kann das allerdings an der moralischen Verpflichtung, den eigenen Ausstoßbeitrag zu senken, nichts ändern. Man benutzt ja auch dann einen Mülleimer, wenn andere ihren Abfall in den Wald werfen. Diese Mülleimer-Analogie passt aber nicht, wie insbesondere Hans-Werner Sinn immer wieder betont. Denn es gibt (leider) keinen Mülleimer für CO2, weshalb die Reduktion von Emissionen in Deutschland und in Europa nicht mit einer Müllvermeidung gleichzusetzen ist. Vielmehr führt der Rückgang der Nachfrage nach fossilen Brennstoffen dazu, dass die Preise dieser Brennstoffe auf den Weltmärkten fallen und deshalb die Nachfrage anderer Länder zunimmt. Der Anteil der in Deutschland und Europa nicht mehr nachgefragten Mengen bleibt also nicht unter der Erde bzw. wird nicht als Müll aus der Umwelt genommen, sondern anderweitig gekauft und verbrannt. Das gilt umso mehr, als bei fallenden Preisen sogar mehr extrahiert wird, da Scheichs, Kohlebarone und Gasoligarchen bestrebt sind, Einnahmeausfälle auszugleichen. Sinn nennt diesen mittlerweile anerkannten Zusammenhang „grünes Paradoxon“. Das Problem potenziert sich, wenn man auch den Carbon-Leakage-Effekt bedenkt: Rein nationales oder europäisches Vorgehen führt dazu, dass klimaschädliche Produktionen lediglich ins Ausland verlagert werden.
All das zeigt – erstens –, dass selbst eine Reduktion der CO2-Emissionen in Deutschland und Europa auf null nur einen marginalen Einfluss auf das globale Klima hätte und – zweitens – dass im Grunde alles auf ein Kooperationsproblem hinausläuft. Hier muss kluge Klimapolitik schwerpunktmäßig und mit Nachdruck ansetzen, nicht an der Errichtung von Windenergieanlagen an ungeeigneten Standorten. Wer „Hört auf die Wissenschaft“ ruft, sollte auch den Wirtschaftswissenschaften zuhören. Denn für das Kooperationsproblem können Meteorologie und Geologie keine Lösungen bieten. Solche Lösungen sind längst entwickelt worden. Zu nennen ist insbesondere der Vorschlag des Nobelpreisträgers William Nordhaus, einen „Klub der Willigen“ zu gründen, der einen umfassenden globalen Emissionshandel betreibt, Nichtmitglieder beim Handel durch einen CO2-Grenzausgleich diskriminiert und wirtschaftlich attraktiv genug ist, um eine Sogwirkung für neue Mitgliedstaaten zu entfalten. Der Koalitionsvertrag bleibt hier aber äußerst blass. Das liegt jedenfalls auch daran, dass der Ausbau der Windenergie politisch deutlich sichtbarer ist als die Analyse und Gestaltung von Marktmechanismen. Dass letzteres im Koalitionsvertrag viel zu kurz kommt, haben jüngst auch Ottmar Edenhofer, Leiter des Potsdamer Instituts für Klimafolgenforschung, und Axel Ockenfels, der sich mit ökonomischem Verhalten und Marktdesign beschäftigt, festgestellt.
Wie man sich einen Trojaner einfängt
Ein Trojaner kann seine Wirkung nur dann entfalten, wenn jemand dazu verleitet wird, ihn auf sein System zu laden. Das geschieht üblicherweise durch Social-Engineering, also durch ein Vorgehen, bei dem menschliche Schwächen und Denkfehler ausgenutzt werden. Der Mensch ist ein kognitiver Geizhals, der es möglichst vermeidet, zu viel nachzudenken. Denken kostet Zeit, ist ressourcenintensiv, dauert und ist ungünstig, wenn es darum geht, einem Säbelzahntiger zu entkommen. Evolutionsbiologisch ergibt es Sinn, dass wir eine ganze Reihe von Heuristiken entwickelt haben, die zu raschen Entscheidungen führen, aber eben nicht immer zu den richtigen. Statt also Vor- und Nachteile verschiedener Handlungen vollständig zu erfassen, zu bewerten und abzuwägen, hat unser Gehirn Mechanismen zur Komplexitätsreduktion entwickelt.
Dass Vertrauen in diesem Sinne komplexitätsreduzierend wirkt, weiß auch die Politik. Habecks Staatssekretär Sven Giegold hat kürzlich öffentlichkeitswirksam gesagt: „Sobald ein Rotmilan in einem Planungsgebiet auftaucht, kann dort im Prinzip nicht mehr gebaut werden.“ Das ist falsch (ob mit oder ohne „im Prinzip“). Das bloße Erscheinen eines Rotmilans reicht bei Weitem nicht für die Versagung einer Genehmigung aus. Erforderlich ist vielmehr, dass das Tötungsrisiko für geschützte Arten „signifikant“ erhöht wird, wie es im Bundesnaturschutzgesetz ausdrücklich heißt. Ob ein Tötungsrisiko signifikant erhöht wird, hängt von einer nicht trivialen Prüfung ab, die Abstandsbetrachtungen, Habitatpotenzial- und Raumnutzungsanalysen berücksichtigt. Anders als Giegold suggeriert, muss also einiges zusammenkommen, damit eine Genehmigung in solch einem Fall versagt wird.
Wäre das so erläutert worden, hätte sich das Wirtschafts- und Klimaministerium fragen lassen müssen, ob denn das, was derzeit gesetzlich vorgesehen ist, nicht schon ein sinnvolles und verhältnismäßiges Austarieren bedeutender Belange sei, und ob denn die Europäische Union falsch liege, wenn sie mit ihrer Biodiversitätsstrategie (die, wie auch der Klimaschutz, ein Kernteil des Green Deal ist) das sukzessive Verschwinden von Knotenpunkten im ökologischen Netz verhindern möchte, damit nicht durch das Erreichen von Kipppunkten menschliche Lebensgrundlagen irreversibel geschädigt werden. Während beispielsweise der Hamburger Evolutionsbiologe Matthias Glaubrecht immer wieder auf dieses mittlerweile massive Problem aufmerksam macht, hält es Giegold für opportun, das Vertrauen des Publikums mit alternativen Tatsachen zu gewinnen. Dabei macht er sich (bewusst oder unbewusst) die Verfügbarkeitsheuristik zunutze, also die Fähigkeit von Menschen, die Wahrscheinlichkeit von Ereignissen je nach Verfügbarkeit zu bewerten. Die Vorstellung davon, dass das bloße Auftauchen eines Rotmilans einen ganzen Windpark verhindert, ist anschaulich und einprägsam, also leicht erinnerbar und verfügbar. Das verleitet zu der Annahme, dass der Klimaschutz am Rotmilan scheitert. Und damit das nicht passiert, braucht es Gesetzesänderungen.
Wie man Trojaner entfernt
Wird ein Trojaner auf einem System identifiziert, sollten die fraglichen Dateien mit einem dafür vorgesehenen Tool oder durch die Neuinstallation des Betriebssystems entfernt werden. Letzteres wäre übertrieben. Neuwahlen sind nicht erforderlich. Es reichen horizontale und vertikale Gewaltenteilung und eine unabhängige Justiz. Zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof besteht große Einigkeit darüber, dass die Europäische Union innerhalb der ihr durch die Mitgliedstaaten übertragenen Befugnisse alleine zuständig ist, Regelungen zu treffen. Davon abweichende Sonderwege einzelner Mitgliedstaaten führen zu Verzerrungen und zu Umgehungen der Politik der Europäischen Union durch einzelne Mitgliedstaaten. Es zieht sich wie ein roter Faden durch die Arbeit der Europäischen Kommission und auch des Europäischen Gerichtshofs, Umgehungsstrategien einzelner Mitgliedstaaten zu identifizieren und zu verwerfen.
Während die Kommission immer wieder Vertragsverletzungsverfahren initiiert, insbesondere gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen Mängeln bei der Umsetzung naturschutzrechtlicher Vorschriften, findet der europäische Gerichtshof in seinen Entscheidungen oftmals deutliche Worte, wenn es um die Reduktion von Schutzstandards geht. Es gehört zum harten Kern dieser Rechtsprechung, dass nationale Gerichte bei der Anwendung von Unionsrecht gehalten sind, für die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu sorgen, indem sie erforderlichenfalls jede entgegenstehende nationale Rechtsvorschrift aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lassen, ohne dass sie die vorherige Beseitigung dieser Vorschrift auf gesetzgeberischem Weg oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müssten. Nur so lassen sich mitgliedstaatliche Strategien zur Umgehung des Unionsrechts unterbinden. Genau das ist aber der Passus zur öffentlichen Sicherheit im Koalitionsvertrag: eine Strategie zur Umgehung des Unionsrechts, indem ein unionsrechtlicher Begriff national definiert wird, um ein nationales Ziel zu erreichen. Das Ziel ist der Ausbau der Windenergie auch an ungeeigneten Standorten, oder aus der Perspektive des Unionsrechts formuliert: der Missbrauch einer für andere Zwecke vorgesehenen Ausnahmeregelung im Unionsrecht.
Im Grunde ist die Idee, unionsrechtliche Begriffe mitgliedstaatlich auszufüllen, nicht neu. Gerade deshalb, weil diese Umgehungsstrategie die Kommission und den Gerichtshof bereits beschäftigt hat, ist es zwingend zu beachten, was hierzu entwickelt wurde: Jeder im Unionsrecht verwendete Begriff muss autonom in seinem spezifischen unionsrechtlichen Sinne ausgelegt und angewendet werden. Jeglicher Verweis auf innerstaatliche Sinngehalte umgeht rechtsstaatlich und demokratisch zustande gekommenes Unionsrecht und hindert eine einheitliche Geltung unter allen Mitgliedstaaten. Das führt zur Erosion bzw. Aushöhlung des Unionsrechts. Wie soll die Bundesrepublik Deutschland dann noch glaubwürdig Polen auf die Wichtigkeit der Einhaltung unionsrechtlicher Standards hinweisen, wenn es selbst diese Standards schleift?
Das Verbot, den unionsrechtlichen Begriff der öffentlichen Sicherheit eigenständig auszufüllen, muss erst recht gelten, wenn der europäische Gerichtshof, wie hier, diesen Begriff bereits interpretiert hat. Demnach kann eine Berufung auf die öffentliche Sicherheit nur dann stattfinden, wenn eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Dass die Versorgung mit Energie und auch die Reduktion von Emissionen ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, liegt auf der Hand. Dass aber dieses Interesse schwer gefährdet sein soll, nur weil an manchen Standorten keine Windenergieanlagen errichtet werden können, ist nicht sachlich begründbar. Eher stellt sich die Frage, ob ein zu einseitiger und starker Ausbau der Windenergie nicht sogar zu einer Gefährdung der Versorgungssicherheit führt, weil auch ein noch so ambitionierter Ausbau keine sichere Grundlast zur Verfügung stellen kann.
Wie man sich vor weiteren Trojanern schützt
Umweltpolitisch betrachtet, ist es wichtig hervorzuheben, woran Veronika Grimm, die Vorsitzende des Sachverständigenrats („die fünf Wirtschaftsweisen“), einmal mehr erinnert hat: Die Transformation ist so komplex, dass man ordnungsrechtlich den richtigen Weg kaum abstecken und die notwendige Dynamik kaum auslösen kann. Es sind weniger ordnungsrechtliche Maßnahmen notwendig, als vielmehr marktwirtschaftliche Instrumente. Auch deshalb ist Vorsicht geboten, wenn die Politik versucht, ordnungsrechtlich durch Legaldefinitionen zu steuern. Gewiss ist bei dem Vorhaben „öffentliche Sicherheit“ nur, dass Schäden und Kollateralschäden entstehen.
Autoreninfo: Dr. Rico Faller ist Fachanwalt für Verwaltungsrecht und Partner der Sozietät Caemmerer Lenz. Er lehrt an der Hochschule für öffentliche Verwaltung Kehl und ist ehrenamtlicher Richter am Dienstgerichtshof für Richter beim Oberlandesgericht Stuttgart.