Bei Naturschützern sollten die Alarmglocken schrillen: Mitarbeiter der Nationalparkverwaltung reisen über Land und besuchen Ratssitzungen in den Küstenkommunen. Geworben wird in insgesamt 30 Küsten-Gemeinden, die sich für ihre Landschaft hinterm Deich ein „Siegel“ als Entwicklungszone des UNESCO-Biospährenreservats auf den Gemeindebriefkopf pappen könnten. Aktuelles Beispiel ist Jemgum im Rheiderland im Landkreis Leer:
Ein Nationalparkmitarbeiter machte es den Kommunalpolitikern in Jemgum so schmackhaft (zitiert nach einem Bericht aus der Ostfriesen Zeitung, 29. Sept. 2020: „Jemgum will ran ans Wattenmeer“): „Die Zone hinterm Deich wäre die Entwicklungszone. Dafür gebe es das UNESCO-Siegel. Das hat das Land hinterm Deich verdient. Das ist eine einzigartige Landschaft – geprägt vom Menschen. Man stellt sich den großen Fragen der nachhaltigen Entwicklung direkt vor Ort. Während die Schutzgebiete der Europäischen Union für Deutschland rechtliche Auswirkungen haben, handelt es sich bei der Entwicklungszone eines Unesco-Biospährenreservates aber schlicht um eine Auszeichnung der Vereinten Nationen. Landwirte hätten somit keine weiteren Naturschutzauflagen zu befürchten.“ Den Antrag zur Unesco-Entwicklungszone im Biosphärenreservat hatte Dr. Walter Eberlei von der Fraktion „Jemgum 21“ gestellt: „´Es gibt in der ganzen Gemeinde, so weit ich weiß, nur eine einzige Info-Tafel in Pogum, die auf das Weltnaturerbe Wattenmeer hinweist´, sagt Eberlei. Auch das müsse geändert werden. Auch die Bohrinsel in Dyksterhusen habe eine Menge Potential. ´Hier gibt es einmal im Jahr eine Führung, bei der man auch die Meeresbucht Dolllart entdecken kann. Das müsste es für Urlauber eigentlich jedes Wochenende geben´, sagt er. Die Planungen sollten aber bei der Projektgruppe liegen.“
Danke für die Warnung. Die ehemalige Bohrinsel Dyksterhusen ist jedoch seit Jahren ein Störfaktor am Dollart-Watt, weil sie auch mit Fahrzeugen befahren wird und die Scheinwerfer die Rastvögel von ihren Äsungs- und Schlafplätzen im davorgelagerten Watt vertreiben. Das kümmert die Ratsmitglieder weniger. Es geht um das Abgreifen von Fördergeldern für das Etikett „Biosphärenreservat“.
Die Gemeinde Sande im Landkreis Friesland hat mit UNESCO-Fördergeldern einen „Klimapfad“ eingerichtet und ist Teil einer „Entwicklungszone“ im Biosphärenreservat geworden. Die Küstengemeinde Burhave in der Wesermarsch am Jadebusen lehnte eine Bewerbung um den Beitritt zu einer Entwicklungszone ab. Die Stadt Schortens im Landkreis Friesland wird aber Entwicklungszone des UNESCO-Biosphärenreservats „Niedersächsisches Wattenmeer“. Mit 18 zu 14 Stimmen befürwortete der Stadtrat im September 2020 den Beitritt. Vorher hatten über 100 Landwirte mit etwa 30 Traktoren vor dem Bürgerhaus Schortens gegen den Beitritt demonstriert. Sie befürchten zusätzliche Auflagen beispielsweise bei der Grünlandbewirtschaftung. Gäbe es die Auflagen tatsächlich, wäre das der richtige Schritt zur Verbesserung der Lebensbedingungen für Wiesenvögel. Nur gibt es diese Auflagen noch nicht einmal in ausgewiesenen EU-Vogelschutzgebieten an der Küste, die z.T. mit sehr schlappen Landschaftsschutzgebietsverordnungen in nationales Recht überführt worden sind, von den Unteren Naturschutzbehörden der Landkreise. Über die Inhalte der Schutzgebietsverordnungen stimmen die Kreistagsmitglieder vorher ab, die oft ganz andere Interessen als die des Natur- und Artenschutzes vertreten. Die Nationalparkverwaltung entpuppt sich wieder einmal als Tourismusagentur, die nicht nur den Nationalpark vor dem Deich, nun auch noch die Flächen im Binnenland hinter dem Deich mit einem neuen Etikett vermarkten hilft, für noch mehr Tourismus (IHK_Tourismusdaten_Ostfriesland_2020,pdf). Entscheidende Akteure sind dabei vor allem Kommunalpolitiker, die sich in der Vergangenheit stets gegen Naturschutzauflagen ausgesprochen hatten, vor dem Deich und hinter dem Deich. Der Etikettennaturschutz wie „Weltnaturerbe“ oder „Biosphärenreservat“ ist kein Instrument für mehr Artenvielfalt, das ließe sich am Beispiel des Nationalparks Niedersächsisches Wattenmeer belegen.