Was hat die Corona-Pandemie mit Naturschutz zu tun?

Norderney, am stark belaufenen Sandstrand, Nähe Surfschule, 06. Juni 2019: brütender Sandregenpeifer mit viel zu kleinräumiger Absperrung zu seinem Schutz. Diese Art geht durch den Massentourismus im Nationalpark dramatisch zurück. – Foto (C): Eilert Voß

Seit Mitte März 2020 ist schlagartig alles anders geworden: Das winzige Corona-Virus brachte die Welt aus den Fugen. Das Land Niedersachsen verfügte mit seiner fachaufsichtlichen Weisung an die Landkreise die Einschränkung sozialer Kontakte auf der Grundlage des Infektionsschutzgesetzes, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen. Kontaktverbote, neudeutsch „social distancing“, werden polizeilich überwacht. Dazu gehört auch das Verbot der Bereitstellung von Gästebetten, anwesende Touristen mussten die Küste verlassen. Für die Branche bedeutet das nie dagewesene dramatische wirtschaftliche Einbußen. So makaber es aber klingt: Profitieren von der Pandemie und den damit verbundenen Einschränkungen werden die vom Massentourismus gefährdeten Bodenbrüter im Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer.

Keine Menschenmassen, keine Lenkdrachen, Drohnen, Geocacher, anlandende Sportbootfahrer oder Kitesurfer, keine freilaufenden Hunde in oder an den Schutzgebieten werden die schutzlosen Bodenbrüter gefährden; eine ungewohnte Ruhe wird in das Großschutzgebiet Nationalpark einkehren. Sogar die Seehunde werden von der evtl. Ausweitung der Corona-Maßnahmen profitieren, sorgen doch immer wieder unvorsichtige Wassersportler, Watt- oder Strandwanderer für die Trennung von Muttertier und Jungtier, das dann zum Heuler wird – und dann, wenn es Glück hat, in die Seehundaufzuchtstation in Norddeich gebracht wird. Für eine begrenzte pandemische Zeit Natur Natur sein lassen, wer hätte noch vor kurzem gedacht, dass dies auf solch unerwartet und unerwünscht-bizarre Weise Wirklichkeit würde.

13. Mai 2018, Borkum, Südstrand, strengste Schutzzone im Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer (Ruhezone, Zone I): Ignoranz trifft Strandbrüterschutz, zwei Brutpaare Zwergseeschwalben“erfolgreich“ vertrieben. Foto (C): Eilert Voß

Naturschutz: auf dem Papier und in der Wirklichkeit

Auch wenn sich die Einschränkungen durch die Pandemie bis in die Sommermonate erstrecken sollten: Langfristig wird sich das vorübergehende Tourismus-Aus nicht stabilisierend auf diese bestandsbedrohten Vogelbestände auswirken können. Eine Selbstbeschränkung der Gästezahlen auf ein naturverträgliches Maß wird es kaum geben, da die Infrastruktur dafür ausgebaut wurde und Existenzen davon abhängen. Der Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer ist eigentlich ein Großschutzgebiet für Tiere und Pflanzen, in dem Naturvorgänge möglichst ungestört in ihrer natürlichen Dynamik ablaufen sollen, so steht es jedenfalls im Bundesnaturschutzgesetz. Der 1986 eingerichtete Nationalpark ist auch europäisches Vogelschutzgebiete und zum größten Teil Flora-Fauna-Habitatgebiet, Biosphärenreservat, umsatzfördernd noch getoppt vom werbewirksamen Etikett „Weltnaturerbe“. Auf dem geduldigen Papier klingt das überzeugend nach richtigem Naturschutz, die Wirklichkeit sieht ganz anders aus. Das Schutzgebiet wurde jahrzehntelang sehr dynamisch in einen großen Freizeitpark verwandelt, auch mit tatkräftiger Unterstützung der Nationalparkverwaltung in Wilhelmshaven. Neue Nutzungen wie das Kitesurfen in den zweitstrengsten Schutzzonen, den Zwischenzonen, kamen unmittelbar nach „Ernennung“ des Nationalparks 2009 zum „Weltnaturerbe“ dazu – ohne die dafür naturschutzrechtlich gebotenen Verträglichkeitsprüfungen vor der Ausweisung der Flächen.

Ostersonntag 2020, wegen der Corona-Pandemie gesperrter Campingplatz Bensersiel: Ringelgänse äsen auf dem nun ruhigen Gelände zwischen den Anschlusskästen. Strand und Campingplatz wurden in den 1960er-Jahren hier aufgespült, davor war es eine Salzwiese. – Foto (C): Manfred Knake

Die unbekannten Wesen

Nur lebt der Mensch, als Einheimischer oder Tourist, nicht alleine an der Küste und auf den Inseln. Neben den allgegenwärtigen Möwenarten, u.a. den berüchtigten Pommes stehlenden Silbermöwen, leben an der Küste und vor allem auf den Inseln noch die letzten und weitgehend Unbekannten ihrer Art: Sandregenpfeifer, Seeregenpfeifer, Zwergseeschwalben, Sumpfohreulen, Korn- und Wiesenweihen. Dazu kommen u.a. Kiebitz, Uferschnepfe, Austernfischer und Rotschenkel, sog. „Watvögel“, Vogelarten, die heute kaum noch jemand kennt. Sie brüten ungeschützt ebenerdig am Strand, in den Dünen oder in den Salzwiesen. Die Nester können sehr leicht durch unaufmerksame Fußgänger zertreten, die Altvögel schon bei Annäherung gestört oder vertrieben werden. Bleiben die so vertriebene Altvögel zu lange dem Nest fort, kühlen die Gelege aus oder werden von Möwen oder Krähen geplündert. Diese z.T. hochgradig bestandsbedrohten Vogelarten kamen so trotz nationaler und europäischer Schutzgesetze unter die Füße des Massentourismus.

Campingplatz Bensersiel in der Saison 2017 – Foto (C): Eilert Voß

Landwirtschaft und Massentourismus

Nicht nur im küstennahen europäischen Vogelschutzgebiet von Norden bis Esens sind die Wiesenvögel als Bodenbrüter schon seit Jahren unter die Maschinen der intensiv wirtschaftenden Landwirtschaft gekommen, die schon ab März jeden Jahres die Flächen mit schwerem Gerät befährt, pflügt, walzt, schleppt, eggt oder begüllt. Hier ist der „stumme Frühling“ schon Wirklichkeit geworden. Das maschinengerechte Kiebitzei hat die Evolution noch nicht erfunden. Der Kiebitz als ehemaliger Charaktervogel der Marschen ist in größerer Zahl nur noch auf dem Zuge und kaum noch als Brutvogel zu sehen. Rotschenkel, die in den Marschen noch vor dreißig Jahren von den Zaunpfählen ihre markanten Rufe hören ließen, sind so gut wie verschwunden. Im und am Nationalpark werden laut Industrie- und Handelskammer für Ostfriesland und Papenburg jährlich ca. 17 Millionen Tourismus-Übernachtungen von Norden bis Carolinensiel und von Borkum bis Wangerooge gezählt („nach Angaben der Kurverwaltungen“, ohne Festland im Landkreis Friesland und ohne Cuxhaven), das entspricht etwa 2,5 Millionen registrierten Gästen (ohne Tagesgäste), die sich jährlich an der Küste oder auf den Inseln, mit oder ohne Hund, mit Lenkdrachen, Drohnen, mit Motorbooten oder Kitesegeln, zur Erholung aufhalten. Elf hauptamtliche Nationalparkranger auf 3.500 qkm Fläche, die über keine polizeilichen Befugnisse und Boote verfügen, können diese Menschenmassen kaum ausreichend lenken und „auf den rechten Weg“ im Nationalpark führen, sie also am Verlassen der ausgewiesenen Wege hindern.

Kiebitzrastplatz wird begüllt, Oldersum/LK Leer, Februar 2018 – Foto C): Eilert Voß

Fachliche Warnungen schon vor vierzig Jahren

Alle fachlichen Warnungen vor einem ungebremsten Ausbau des Massentourismus verhallten ungehört. Der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen stellte schon 1980, also vor 40 Jahren, in seinem Sondergutachten „Umweltprobleme der Nordsee“ (Kohlhammer Verlag) fest, dass die touristischen Kapazitäten der Nordseeinseln „weitgehend ausgeschöpft“ seien (S.331). Das Gutachten warnte vor dem Druck „gerade auf die restlichen, naturnahen noch attraktiven Landschaftsräume“, der „wahrscheinlich noch wachsen“ werde (S.330). Wie wahr und weitsichtig! Von den riesigen Windparks vor den Inseln in den Hauptrouten des Vogelzuges und hinter den Deichen in den Hochwasser-Rast- und Fluchtplätzen der Vögel des Wattenmeeres, die den Nationalpark umzingeln, konnten die Gutachter damals noch nichts ahnen. Es bleibt zu hoffen, dass die Corona-Pandemie in absehbarer Zeit zu Ende gehen wird und damit auch das Ende der Einschränkungen abzusehen ist. Davon ausgehend wird es schon im nächsten Jahr wie gewohnt an der Küste „brummen“, Business as usual, für Mensch, aber auch für Tier.

Manfred Knake

Dieser Beitrag erschien leicht verkürzt und verändert am 06. April 2020 in der Lokalzeitung „Anzeiger für Harlingerland“ in Wittmund.

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