Vom Reichtum zum Endstadium – Anmerkungen zur Entwicklung küstennaher Wiesenlandschaften, von Wolfgang Epple
(Fotos: Eilert Voss, Manfred Knake)
1992 war für mich, Biologe aus Baden-Württemberg, ein besonderes Jahr: Entgegen allgemeiner Bevölkerungsströme zogen wir aus dem Süden der Republik weit in den Norden, auf einen Resthof im Landkreis Wesermarsch, Luftlinie kaum 1, 5 km hinter dem Deich am Jadebusen. Aus dem waldreichen Keuperstufenland in die grünlandreiche Marsch – welch ein Szenenwechsel für einen „Orni“…
Das Besondere: Der Hof in der Norderschweier Moormarsch lag – zufällig – inmitten eines Wiesenbrüterschwerpunktes.
Damals bestanden solche Gemeinschaften, in der Marsch vielfach verteilt und wiederholt, aus jenen vier bis fünf typischen, optisch wie akustisch so eindrucksvollen Arten: Kiebitz, Uferschnepfe, Rotschenkel, Austernfischer und Bekassine. Besonders im Gedächtnis bleibt bis heute, dass zum Höhepunkt der Paarbildung und Reviergründung rund um unsere Hofstelle eine für das süddeutsche Ohr geradezu exotische Klangkulisse bis weit in die Dämmerung und sogar nachts bestand: Wuchtelnde Kiebitze, das „Meckern“ der Bekassine, die melodischen Rufe der „Tüdelüten“ (Rotschenkel), die Balzflüge der Uferschnepfen. So paradiesisch hatte ich mir das nicht vorgestellt. Vor der Immobilienwahl in der Wesermarsch hatte die Suche zunächst nach Ostfriesland, genauer nach Ihlowerhörn an das Fehntjer Tief geführt – als Biologe hatte ich die entstehende Naturschutzstation im Auge, die dann 1993 anderweitig besetzt wurde. Naturschutz-Zukunft schien an etlichen Stellen entlang der Nordsee verlockend. Es wurde ein Auftrag in der „Stollhammer Wisch“, in der ich über Jahre hinweg im Auftrag des damaligen Niedersächsischen Landesamtes für Ökologie (NLÖ) die ornithologische Begleitung eines Vertragsnaturschutz-Projektes innehaben durfte. Wer viele hundert Stunden Vogelerfassung und begleitende Flurstücks-genaue Kartierung der landwirtschaftlichen Nutzung in der Marsch hinter sich hat, den lässt auch aus der inzwischen wieder bestehenden süddeutschen Ferne des Wohnsitzes nicht kalt, was sich im küstennahen Grünland seit Jahren, eigentlich Jahrzehnten vollzieht. In diesen 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts hatte man das weite Land wegen der Ruhe, Schönheit der Horizonte und reichen Naturausstattung schätzen und lieben gelernt. Immer wieder zog es uns als Ausflügler und zu Vergleichszwecken durch Ostfriesland vom Jadebusen bis hinüber an den Dollart.
Der Niedergang und die heute krassen Naturschutz-Probleme der südlichen Nordsee aber dämmerten schon: Ein erstes Windindustriegebiet direkt am Projektgebiet der Wisch war nur die Vorhut einer bis in die Gegenwart anhaltenden Invasion. Fährt man heute, Jahrzehnte nach deren Beginn die gleichen Routen, wird man von der Windkraftindustrie vielerorts förmlich erdrückt. Die Horizonte sind bis an den Rand des Wattenmeer-„Nationalparkes“ verstellt – freie, ungestörte Blicke gibt es allenfalls seewärts. Zigtausende Hektare Grünland, oft moorig und feucht: eine vor drei Jahrzehnten noch bestehende Jahrhundertchance für Natur- und Artenschutz in Mitteleuropa – überwiegend dahin. Nicht nur, dass einem überall selbst an unmöglicher Stelle heutzutage der Maisanbau begegnet. Die intensive Nutzung des Grünlandes – Gülle, Düngen, Schleppen und Walzen während der Eiablage und Brutzeit der Wiesenbrüter, zu frühe Mahd noch während der Brut- oder Küken-Aufzucht-Zeit – diese Probleme gab es schon und sie sind geblieben.
Damals jedoch kaum vorstellbar: Die Intensität ließ sich in den letzten Jahren tatsächlich noch steigern. Inzwischen ist ein systematischer, endgültiger Angriff auf alles im Gange, was wenigstens einige Teile des Grünlandes bisher für die bodenbrütenden Bewohner und die sie repräsentierende Lebensgemeinschaften noch immer wertvoll gemacht hatte. Unter klangvollen Rumpelstilzchen-Begriffen wie Grünlandverbesserung und Neuansaat ist die endgültige Nivellierung vom ehemals reichen natürlichen Leben zu weitgehend von diesem befreiten Turbo-Gras-Industrie-Standorten im Gange. Was noch lebt auf den Flächen bzw. zu leben versucht, wird zum Feind: „Mäuse“ und „Gänse“ sind die Widersacher in der Schlacht, die auf den Grünländereien gegen die Natur geführt wird. Letzte Reste der ehemals des Staunens und Erlebens werten Lebensgemeinschaften der Wiesen werden zu musealen Schaustücken. Auf selbst mit EU-Mitteln geförderten Flächen hat die Intensivstnutzung erkennbar freie Bahn. Das alles unter den Augen einer sich doch so naturfreundlich wähnenden Öffentlichkeit. Wie das? Schon in den 1990er Jahren irritierte mich die offensichtliche Kumpanei zwischen Behörden und naturschädigender Landwirtschaft in etlichen speziellen Konfliktfällen.
Nachdem kritische Bemerkungen sowohl zur Rolle der landwirtschaftlichen Nutzung als auch zu Schön-Rechen-Künsten eines Bediensteten der unteren Naturschutzbehörde im Zusammenhang mit Rückgangsursachen der Wiesenbrüter unter der damaligen Schriftführung eines heute in der Region führenden Landesbediensteten aus meinem Abschlussbericht zur „Stollhammer Wisch“ herausredigiert bzw. entschärft werden sollten, verzichtete ich auf eine Publikation im Sammelband des NLÖ. In den letzten fast 30 Jahren scheint sich wenig bis nichts geändert zu haben an dieser Sachlage. Warum schreiten die zuständigen Behörden nicht ein gegen die offensichtlich nutzungsbedingte Vernichtung von Bruthabitaten? Ist die Sachlage nicht bekannt? Wohl kaum. Es bleibt wohl eher bei dieser eigenartigen, für die wehrlose Natur friesisch-herben Definition von „angewandter Ökologie in der Landwirtschaft“.
Es muss den Beteiligten allerdings klar sein, dass der Ruf der Landwirtschaft insgesamt geschädigt wird, wenn naturzerstörerische Umtriebe wie aktuell im Rheiderland behördlich gedeckt werden. Selbst dann, wenn die Medien ihrer Aufgabe nicht gerecht werdend den offensichtlichen Skandal nicht aufrollen – auf Dauer werden auch die Ostfriesen ein Darstellungsproblem bekommen für den argen Umgang mit ihrer einst so einladend schönen Natur. Narrenfreiheit bedeutet Freiheit für Narren.
Wenn die letzten Kiebitze auf dem „Wirtschaftsgrünland“ endgültig verstummt sein werden, wenn die monströsen Wahrzeichen der Energiewende die letzte Beschaulichkeit der alten friesischen Dorfbilder zerstört haben, mag die Attraktion von „Just-for-Fun“-Betätigungen zu Lasten des Nationalparks noch einige Jahre Zugpferd für den Tourismus der Region sein.
Ästhetisch und ökologisch beschädigtes Land ist auf Dauer für die Einwohner nicht lebenswert und auch für Gäste immer weniger einen Besuch wert. An den küstennahen Windkraft-Verwüstungen spricht sich das schon herum in meinem Bekanntenkreis. Der Exodus der Wiesenbrütergemeinschaften aus nivelliertem Industriegrünland mag für unbedarftes Touri-Publikum (noch) zweitrangig sein. Für die Geschichtsbücher, die im Zeitalter der Biodiversitäts-Debatte einst auch Kapitel zur Verantwortung für das Verschwinden von Uferschnepfe & Co. enthalten müssen, ist er es nicht.