40 Jahre europäische Vogelschutzrichtlinie – war da was?

Blick in das Vogelschutzgebiet V63 bei Bensersiel: illegal gebaute Umgehungsstraße im Vogelschutzgebiet, rechtlich angreifbare Genehmigungspraxis des Windparks Utgast/Gemeinde Holtgast direkt am Vogelschutzgebiet, Foto (C): Manfred Knake

Am 02. April 2019 wurde die europäische Vogelschutzrichtlinie (VRL) 40 Jahre alt. Sie trat 1979 in Kraft. Diese EU-Richtlinie sollte den schon damals erkennbaren Rückgang der biologischen Vielfalt bremsen, nicht zuletzt verursacht durch die Intensivlandwirtschaft in der Europäischen Union. Die VRL wurde und wird bis heute nicht ausreichend von der verantwortlichen Politik beachtet. Das bekannte Schlusslicht bei der nationalen Umsetzung der Richtlinie in Landschafts- oder Naturschutzgebiete ist wieder einmal das Bundesland Niedersachsen. Hier wurden in der Regierung Wulff (CDU) mit dem berühmt-berüchtigten Umweltminister Hans Heinrich Sander (FDP, inzwischen verstorben) 2003 die Bezirksregierungen und das Niedersächsische Landesamt für Ökologie (NLÖ) aufgelöst und die Zuständigkeiten für der Umsetzung der Vogelschutzrichtlinie „nach unten“ auf die Landkreise – und damit auf den kommunalen Klüngel – übertragen. Hier hielt man die Vogelschutz- und auch die FFH-Richtlinie (Natura-2000-Richtlinien) lange Zeit für eine unverbindliche Handlungsempfehlung aus Brüssel. Brüssel schien weit, weiter als der Mond, den man immerhin sehen kann.

Nur: Die Richtlinien sind für alle Mitgliedsstaaten verbindliches Europarecht, auf englisch heißen sie denn auch deutlicher „directives“. Ein eklatantes Beispiel der Missachtung der Vogelschutzrichtlinie ist der illegale Bau der Umgehungsstraße in Bensersiel/Stadt Esens im Landkreis Wittmund. Unterstützt wurde der Straßenbau von der Landkreisverwaltung als Aufsichtsbehörde und dem Niedersächsischen Umweltministerium und, man mag es kaum glauben, vom Kreisverband des NABU. Als das Land Niedersachsen 2006 von der EU-Kommission aufgefordert wurde, das Küstengebiet von Norden bis Esens als Vogelschutzgebiet nachzumelden, kam Niedersachsen der Aufforderung nach, klammerte aber die geplante Straßentrasse und eine Golfplatzfläche in der Samtgemeinde Esens von der Gebietsmeldung aus. Davor aber hatte das Land über die Staatliche Vogelschutzwarte gegenüber der EU-Kommission vortragen lassen, das Gebiet zwischen Norden und Esens erfülle gar nicht die Kriterien eine Vogelschutzgebietes. Damaliger Leiter der Vogelschutzwarte war Peter Südbeck, heute Leiter des Nationalparks Niedersächsisches Wattenmeer. Erst als der Wattenrat der EU-Kommission eine fachliche Stellungnahme mit den tatsächlichen Vogeldaten übersandte, musste Niedersachsen das Gebiet Norden-Esens nachmelden, mit den genannten „Aussparungen“. Details hier
Die unzureichende Gebietsmeldung hatte Folgen. Erst die erfolgreich bis zum Bundesverwaltungsgericht durchgeführte Klage eines Landeigentümers gegen die Stadt Esens, die den Straßenbau plante und durchführen ließ, brachte den illegalen Straßenbau in diesem Vogelschutzgebiet an die Öffentlichkeit. Der Bau der Straße kostete fast 9 Millionen Euro, davon waren 5,4 Millionen Euro öffentliche Fördergelder. Die Gerichts- und Anwaltskosten der Stadt Esens beliefen sich auf mehrere hunderttausend Euro. Die Straße musste nach der Klage gesperrt und darf derzeit nicht genutzt werden.

NSG Emsauen bei Nüttermoor/Leer, EU-Vogelschutzgebiet, Mahd in der Brutzeit von Bodenbrütern, 18. Mai 2014 -Foto (C): Eilert Voß – Das rote Hinweisschild „Naturschutzgebiet“ wurde inzwischen entfernt.

Auch heute noch wird europäisches Naturschutzrecht vor allem von Landwirtschaftsfunktionären in Frage gestellt, trotz des immer dramatischer erkennbaren Rückgangs vieler Vogelarten der Agrarlandschaft. Der Berufsstand mit der stets offenen Hand streicht aber seit Jahrzehnten z.T. üppige Subventionen von der EU ein, die eigentlich auch der biologischen Vielfalt zugute kommen sollen, aber wer kontrolliert das?

Die Europäische Gesellschaft zur Erhaltung der Eulen (EGE) hat einen treffenden Kommentar zum Geburtstag der Vogelschutzrichtlinie veröffentlicht, den wir hier mit freundlicher Genehmigung übernehmen:

Für die Europäische Union hat Naturschutz lange Zeit keine Rolle gespielt. Das änderte sich erst mit der „Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaften über die Erhaltung der wild lebenden Vogelarten“ (Richtlinie 79/409/EWG oder kurz Vogelschutzrichtlinie) am 02. April 1979 – knapp zehn Jahre nach dem ersten europäischen Naturschutzjahr. Die EG-Vogelschutzrichtlinie war eine Reaktion auf die schon damals – nicht zuletzt als Ergebnis der gemeinsamen Agrarpolitik – dramatischen Verluste biologischer Vielfalt.
Die Richtlinie verlangt vom Mitgliedstaat einen durchgreifenden Schutz aller einheimischen Vogelarten und für die Erhaltung bestimmter Brut- und die regelmäßig auftretenden Zugvogelarten die Einrichtung strenger Vogelschutzgebiete – nämlich die Unterschutzstellung der für diese Arten „zahlen- und flächenmäßig geeignetsten Gebiete“. Deutschland muss deshalb für gut hundert der 250 hier vorkommenden Brutvogelarten (darunter Uhu, Sumpfohreule, Sperlings- und Raufußkauz) solche Schutzgebiete einrichten – die für Zugvögel wichtigsten Vermehrungs-, Rast-, Mauser- und Überwinterungsgebiete eingeschlossen.
Die Deutschen haben von dieser Richtlinie erst Notiz genommen als sie der Unterschutzstellung dieser Gebiete nach Jahrzehnten säumig mit Mahnschreiben und Vertragsverletzungsverfahren der Europäischen Kommission konfrontiert waren. Eingelöst hat Deutschland die Verpflichtungen nur schleppend und bis heute eklatant unzureichend. Zwar sind jetzt gut zehn Prozent der Landfläche als Vogelschutzgebiete benannt, doch durchgreifend unter Schutz gestellt ist immer noch eher nur die Minderzahl der Gebiete. Der Rückgang der Feld- und Wiesenvögel wurde selbst in den Vogelschutzgebieten nur ausnahmsweise gestoppt, weil sich die staatlichen Stellen auch dort scheuen, die landwirtschaftliche Nutzung an Auflagen zu binden. In vielen Fällen steht der Schutz nicht einmal auf dem Papier und sind die Verluste dramatisch – beispielsweise von Bekassine, Kampfläufer, Kiebitz, Uferschnepfe, Grauammer, Feldlerche und Rebhuhn.
Für diesen fortgesetzten Bruch des Gemeinschaftsrechts hat sich die öffentliche Berichterstattung damals so wenig interessiert wie heute am 40. Jahrestag der Richtlinie. Zwischen Fridays for Future, Insektensterben und Dieselskandal ist über das Ereignis bestenfalls verhalten berichtet worden und eine substantiierte Reflexion erwartungsgemäß ausgeblieben. Geburtstagsgeschenke gab es keine. Dabei hätte sich der Vogelschutz schon über Ehrlichkeit gefreut. Bis heute wird der rechtlich bindende Charakter der Richtlinie verkannt, als könne man sich nach ihr richten oder nicht. Dass sich die Situation einer Vielzahl Vogelarten in den letzten 40 Jahren verschlechtert hat, bleibt zumeist ungesagt oder wird – ganz gegen die Fakten – dem Klimawandel zugeschrieben. Dass sich die als Erfolgsgeschichte apostrophierte Zunahme von See- und Fischadler dem Ende der Bejagung, die Rückkehr der Uhus Wiederansiedlungsprojekten und die Vervielfachung brütender Kraniche mehr dem horizontweiten Maisanbau und nicht einer systematischen Naturschutzpolitik verdankt, bleibt einem recherchearmen Journalismus verborgen.
Allerdings könnte die Vogelschutzrichtlinie vor ihrem 50. Geburtstag noch einmal für Schlagzeilen sorgen – nämlich infolge eines neuen Vertragsverletzungsverfahrens. Das laufende Verfahren, das die Europäische Kommission wegen der unzureichenden Unterschutzstellung der Fauna-Flora-Habitat-Gebiete – der zweiten Kategorie gemeinschaftsrechtlich verlangter Schutzgebiete – 2015 eingeleitet und mit einem ergänzenden Aufforderungsschreiben am 24. Januar 2019 untermauert hat, eignet sich als Blaupause für die Sanktionierung der Versäumnisse deutscher Politik auch auf dem Gebiet des Vogelschutzes. Für einen Fortschritt bedarf es offenbar der Verurteilung und drohenden Strafzahlung. Der Tag wird kommen, aber nicht alle Vogelarten werden ihn erleben.

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