Der Wattenrat Ostfriesland hatte im Januar 2016 Strafanzeige gegen die Veranstalter NDR2 (Norddeutscher Rundfunk, 2. Hörfunkprogramm) und den Geschäftsführer und Kurdirektor der Kurverwaltung Norddeich, Armin Korok, wegen der lärmintensiven Silvestergroßveranstaltung am Strand von Norddeich direkt am Großschutzgebiet Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer erstattet. Zu dieser Veranstaltung erschienen laut Presseberichten ca. 5000-7000 Teilnehmer. Bei der lautstarken Musikveranstaltung wurden auch große Mengen Feuerwerkskörper gezündet, die weit in das Schutzgebiet hineinwirkten. Die Auswirkungen auf wildlebende Vögel und deren panisches Fluchtverhalten ist wissenschaftlich gut untersucht. Das Bundesnaturschutzgesetz verbietet die mutwillige Beunruhigung der Tiere als Ordnungswidrigkeit; eine gewerbsmäßige Beunruhigung kann als Straftat geahndet werden. Die Nationalparkverwaltung appelliert in jedem Jahr vor Silvester in den Tageszeitungen, auf Feuerwerke im und am Nationalpark wegen der enormen Störanfälligkeit der Zugvögel zu verzichten, aber immer vergeblich.
Im Nationalpark sind Feuerwerke und lärmintensive Veranstaltungen ohnehin gesetzlich verboten, aber außerhalb unmittelbar an der Grenze, mit den identischen Auswirkungen, für die Staatsanwaltschaft Aurich kein Problem. Oberstaatsanwalt Johann Boelsen der Staatsanwaltschaft Aurich stellte das Ermittlungsverfahren nach vier Monaten ein. Mit einem Zehnzeiler und einem Hinweis auf eine Stellungnahme des Landkreises Aurich wurde dem Wattenrat von der Staatsanwaltschaft mitgeteilt, dass keine Straftat vorläge, ein mutwillige Beunruhigung der Tier läge ebenfalls nicht vor. Es sei nicht möglich festzustellen, dass sich zum Zeitpunkt der Veranstaltung streng geschützte Tiere dort aufgehalten hätten. Der Landkreis Aurich habe zudem in einer Stellungnahme festgestellt, dass keine Ordnungswidrigkeit festgestellt worden sei, eine Genehmigung für die Veranstaltung sei gar nicht notwendig gewesen. Oberstaatsanwalt Boelsen ist SPD-Mitglied und kommunalpolitisch im Nachbarlandkreis Leer aktiv (Nachtrag Juli 2016: Boelsen tritt bei der Kommunalwahl 2016 in der Samtgemeinde Jümme als Samtgemeindebürgermeisterkandidat an).
Der Wattenrat hält diesen Vorgang für skandalös. Hiermit wird einem Veranstalter ausgerechnet vom Landkreis als Untere Naturschutzbehörde ein Freibrief für diese und weitere lärmintensive Großveranstaltungen am Nationalpark und „Weltnaturerbe“ ausgestellt, der Nationalpark damit zum rechtsfreien Raum. Kurdirektor Korok wurde im März 2016 sogar mit der Urkunde „Nationalparkpartner“ der Nationalparkverwaltung ausgezeichnet.
Es ist völlig abwegig davon auszugehen, dass sich keine streng geschützten Vögel im angrenzenden Wattenmeer aufgehalten haben sollen. Nahrungssuchende Vögel der streng geschützten Arten sind aber der Regelfall im Wattenmeer; gerade im milden Dezember 2015 hielten sich tausende arktische Gänse und Watvögel im Wattenmeer auf. Die Rastvögel des Wattenmeeres werden regelmäßig bei den internationalen Wat- und Wasservogelzählungen erfasst; ein Grund für die Ausweisung des Nationalparks war der Erhalt der ungestörten Lebenräume dieser Vögel. Hat die Staatsanwaltschaft das bei ihren Ermittlungen berücksichtigt? Man stelle sich vergleichsweise einen Raser vor einem Kindergarten mit dem Tempolimit 10km/h vor, der ebenfalls nicht bestraft wird. Begründung: Kinder wurden da gar nicht gesehen….
Der Landkreis hat es vor der Genehmigung der Großveranstaltung zudem versäumt, eine gesetzlich vorgeschriebene Verträglichkeitsprüfung mit den Auswirkungen auf dieses europäische Vogelschutzgebiet durchführen zu lassen. Eine Untere Naturschutzbehörde, die das Kleine Einmaleins der Naturschutzgesetzgebung missachtet, ist eigentlich überflüssig. Seit Jahrzehnten wird das sog. „Vollzugsdefizit“, also die Nichtanwendung gesetzlicher Vorschriften in der Anwendungspraxis, im Naturschutz beklagt, zusammen mit einer geringen Sensibilität oder gar Überforderung vieler Staatsanwaltschaften im Natur- und Artenschutzrecht. Es drängt sich wieder einmal der Eindruck auf, dass die enge Verflechtung der Tourismuswirtschaft mit der Verwaltung des Landkreises Aurich zu der völlig abwegigen Fehlbeurteilung dieses Spektakels zu Silvester geführt hat; vereinfacht kann man das als kommunalen „Klüngel“ bezeichnen, bei dem der Naturschutz auf der Strecke geblieben ist.
Mit der (Nicht-) Verfolgung von Straf- oder Ordnungswidrigkeitsanzeigen im Natur- und Artenschutzrecht hat der Wattenrat jahrelange Erfahrung, sei es bei den eklatanten Jagdverstößen in den EU-Vogelschutzgebieten an der Ems, oder, als Krönung, die Nichtverfolgung eines illegal eingerichteten Golfplatzes im Nationalpark Wattenmeer auf der Insel Langeoog.