In einigen ostfriesischen Lokalzeitungen wird derzeit die angebliche „Überpopulation“ arktischer und heimischer Gänse diskutiert. Sehr lautstark und sehr falsch argumentieren dabei auch Teil der Jägerschaft. Jäger gehen davon aus, dass Gänse mit der Flinte „reguliert“ werden müssten. Sie versuchen, in Zusammenarbeit mit landwirtschaftlichen Lobbyverbänden in mehreren Zusammenkünften mit Politikern darzulegen, dass Jäger unverzichtbar bei der Regulierung sind.
Hintergrund ist der, dass Bauern mehr Ausgleichszahlung erhalten wollen, derzeit kassieren sie 250 Euro/Hektar/Jahr, wenn sie am Vertragsnaturschutz teilnehmen, egal, ob Schäden auftreten oder nicht. Jäger fürchten die Einschränkung der Gänsejagd und die Neuregelung der Jagdzeitenverordnung, die der niedersächsische Agrarminister Christian Meyer angekündigt hat. Vor allem in EU-Vogelschutzgebieten soll die Jagd auf Wasservögel eingestellt werden. Ein Mitarbeiter des Wattenrates hatte mit Unterstützung des Vereins „De Dyklopers“ über Jahre erhebliche Jagdverstöße in den Schutzgebieten an der Ems festgestellt: Es wurde bei Dunkelheit oder Nebel gejagt, manchmal fehlte auch der gebrauchsfähige Jagdhund oder es wurden nicht jagdbare Wasservogelarten getötet oder verletzt, auch unter Verwendung des an Gewässern verbotenen Bleischrots. Alle Anzeigen gegen diese Jagdverstöße verliefen im Sande, die Jagdlobby ist bis in die Behörden organisiert. Eine wirksame Jagdaufsicht findet nicht statt. Umso erfreulicher ist es, dass die Bremer Zeitung „Weser-Kurier“ dem Gänsefachmann und -forscher Dr. Helmut Kruckenberg Raum für ein Interview gab, in dem das lautstarke Jägerlatein relativiert und korrigiert wurde. Dieses Interview drucken wir hier mit Genehmigung der Redaktion ab. Im Original sieht der Beitrag so aus: Gaensejagd_WK_03Feb2014.pdf
Weser-Kurier, Bremen, 03. Februar 2014
Forscher Helmut Kruckenberg: Tiere werden scheuer und konzentrieren sich auf wenige Flächen – 03.02.2014
„Gänsejagd kann Schäden nicht verhindern“
Naturschützer und Jäger streiten heftig über die Gänsejagd, in Ostfriesland ist schon vom „Gänsekrieg“ die Rede. Helmut Kruckenberg ist Gänseforscher. Der in Verden lebende Wissenschaftler arbeitet an internationalen Projekten und verbringt viel Zeit in den Rastgebieten. Als Forscher ist dem 44-Jährigen daran gelegen zur Versachlichung der Diskussion um die Gänsejagd beizutragen. Silke Looden sprach mit Helmut Kruckenberg
Herr Kruckenberg, haben die heimischen Gänsebestände tatsächlich so stark zugenommen wie Jäger und Landwirte behaupten?
Helmut Kruckenberg: Das muss man differenziert betrachten. Einerseits haben wir die Zugvögel, die im Sommer in der Arktis brüten und im Winter zu uns kommen. Diese haben seit dem Zweiten Weltkrieg zugenommen. Durch die Intensivierung der Landwirtschaft hier, aber auch durch Verfolgung in der Arktis selber, waren die Gänse vor dem Aussterben. Ab 1974 hat man in internationalen Verträgen umfangreichen Schutz für Gänse umgesetzt. Die Bestände haben sich erholt. Die Zunahme ist also gewollt und gut so. Heute sind die meisten Gänsearten im Bestand stabil, vier Arten nehmen allerdings wieder deutlich ab, nur die Weißwangengans nimmt momentan noch zu. Dann gibt es die Graugans, die hier ein einheimischer Vogel ist. Sie war im späten Mittelalter in Westdeutschland ausgestorben. Hauptgründe waren die Lebensraumzerstörung durch Trockenlegungen und menschliche Verfolgung. In den Siebzigerjahren hat sich die Landesjägerschaft mit Unterstützung des Landes Niedersachsen engagiert und die Graugans wieder als Brutvogel angesiedelt. Das war ein richtiges, erfolgreiches Projekt, mit der Konsequenz, dass die Graugans wieder bei uns brütet.
Haben die Graugans-Bestände denn tatsächlich so stark zugenommen?
Die Graugans erobert sich ihr ursprüngliches Verbreitungsgebiet zurück. Die Bestände lassen sich schlecht erfassen, auch weil die europäischen Graugänse ein unterschiedliches Zugverhalten haben. Wenn wir in den Wümmewiesen oder an der Küste Graugänse sehen, können wir bis Mitte Mai nicht sagen, ob es lokale Vögel sind oder ob diese auf das Ende des Winters in Nordnorwegen warten. Man kann die lokalen Vögel von den Zugvögeln optisch nicht unterscheiden.
Landwirte klagen darüber, dass Gänse ihre Felder kahl fressen.
Zunächst macht nicht jede Gans sofort einen Schaden. Aber besonders die geschützte Weißwangengans konzentriert sich in wenigen Regionen und kann gegebenenfalls Mindererträge verursachen. Es hat sich aber gezeigt, dass Schäden durch die Jagd nicht verhindert werden.
Warum nicht?
Um Schäden wirksam zu verhindern, müsste ein Jäger den ganzen Tag vor Ort auf der Lauer liegen. Das macht keiner. Richtig teure Schäden entstehen in Getreidekulturen, aber dort sind die Jäger selten. Die Gänse werden durch die Jagd scheu und verursachen dann noch viel mehr Schäden.
Sie kaufen den Jägern also nicht ab, dass sie die Schäden reduzieren wollen?
Wollte man alle Schäden durch Gänse wirkungsvoll vermeiden, müsste man den Status quo der Nachkriegszeit wieder herstellen und viele Hunderttausend Gänse abschießen. Das wäre nicht mit EU-Recht vereinbar und wohl auch kaum leistbar. Um Schäden auf einzelnen Flächen zu vermeiden aber ist die Jagd nicht tauglich. In Niedersachsen hat die Graugans übrigens aktuell eine Jagdzeit vom 1. August bis 15. Januar. Das ist das Maximum dessen, was rechtlich möglich ist. Wenn die Graugans jetzt noch immer ein Problem sein sollte, zeigt das ja nur, dass tatsächlich die Jagd nicht einmal zum Management der regionalen Bestände geeignet ist.
Das Land zahlt den Bauern einen Ausgleich…
Landwirte in Vogelschutzgebieten können Verträge zum Schutz der Gänse abschließen. Dennoch dürfen Graugänse und Enten dort geschossen werden. Das verhindert einen wirksamen Gänseschutz – und auch die geschützten Arten werden dadurch erheblich beunruhigt. Aber auch aus landwirtschaftlicher Sicht ist die Situation unbefriedigend, weil nicht alle wirklich Betroffenen auch Verträge bekommen können.
Dann müsste man die Gänse zählen?
Das ist nicht das Problem. Wir haben ein nationales und internationales Gänse-Monitoring. In den großen Rastgebieten Niedersachsens werden die Vögel wöchentlich gezählt. Allerdings rasten in Niedersachsen acht verschiedene Arten mit einer unterschiedlichen Ökologie und anderem Zugverhalten. Das macht das Thema komplex und die öffentlich ausgetragene Diskussion wird dem selten gerecht.
Also gibt es doch Zahlen?
Die Bestände in Niedersachsen schwanken stark je nach Witterung und Jahreszeit. Wir sind ein Durchzugsgebiet für die Gänse, die überwiegend in die Niederlande, nach Belgien und teils bis nach Spanien ziehen. Insofern haben wir jede Woche andere Zahlen. Aber das ist nicht die Population. Die Population sind diejenigen Gänse einer Art, die denselben Zugweg haben. Das sind in Westeuropa etwa 800 000 Weißwangen- , eine Million Bless- und 500 000 Graugänse – aufgeteilt auf viele Staaten. Im Vergleich zu anderen Vogelarten sind das nicht viele. So gibt es etwa etwa 24 Millionen Stockenten. Jährlich werden in Deutschland mehr Rehe geschossen als es Blessgänse gibt.
Niedersachsen plant eine Einschränkung oder gar ein Verbot der Gänsejagd. Bringt das etwas?
Ein Schutzgebiet macht nur dann Sinn, wenn die Vögel auch geschützt werden. Klar. Alles andere kann man doch eigentlich auch nicht vermitteln. Wie lassen sich denn sonst mehr als eine Million Euro im Jahr rechtfertigen? In vielen Teilen stellen die neuen Regeln auch nur eine Anpassung an bestehendes Recht dar. Da der Abschuss von geschützten Arten eine Straftat ist, kommen klarere Regeln besonders den Jägern zugute. Der Abschuss einer geschützten Art ist eine Straftat. Insofern stellen die neuen Regeln auch eine klare Verbesserung für die Jäger dar.
Naturschutzverbände bieten Ausflüge für Gänsefreunde in die Rastgebiete an. Macht das Probleme?
Wenn so viele Gelder für betroffene Landwirte ausgegeben werden, muss ständig um Akzeptanz beim Steuerzahler geworben werden. Die Faszination Vogelzug lässt sich nicht vor dem Fernseher erleben. Dies geht nur in der Natur. Die Regionen sollten den Zugvogelreichtum als Chance begreifen.