Nun kommen die Touristen wieder in Scharen, um Zugvögel an der Küste zu bestaunen, einschließlich der sportlichen Variante „Aviathlon“. Das eigentlich begrüßenswerte Werben der Tourismusindustrie und der Nationalparkverwaltung in Wilhelmshaven für die Zugvögel im Nationalpark Wattenmeer ist eine Sache, der desolate Zustand vieler Salzwiesen, die Rast- und Äsungsflächen der Zugvögel im Nationalpark und „Weltnatuerbe“, ist eine andere. Viele eigentlich geschützte Salzwiesen werden immer noch vom Niedersächsischen Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz (!) (NLWKN) für „Unterhaltungsmaßnahmen“ mit Kettenfahrzeugen zerwalzt, unter „Abstimmung“ mit der Nationalparkverwaltung und nicht in einen angemessenen Erhaltungszustand versetzt, wie es die EU-FFH-Richtlinie vorschreibt. Spaziergänger dürfen aus Artenschutzgründen diese Schutzzonen nicht betreten. Hungrige Gänse aus Nordeuropa oder Asien weichen dann auf landwirtschaftliche Nutzflächen aus.
Die Rast- und Äsungsflächen für Gänse werden durch den Zubau mit Windparks im Binnenland immer kleiner. Ab November bis Januar werden die Zugvögel an der Küste mit Schrotschüssen empfangen: Hobbyjäger dürfen auf den Inseln im Nationalpark Wattenmeer und den Gebieten, die an den Nationalpark anschließen -alles EU-Vogelschutzgebiete-, auch bestimmte ziehenden Gänse und Enten bejagen, dabei kommt es nicht selten zur Verwechselung von jagdbaren mit nicht jagdbaren Arten. Darüber schweigen die Veranstalter der Zugvogeltage und machen in „Heile-Welt-Wattenmeer“. Die angereisten Zugvogeltouristen erfahren von diesen unschönen Feinheiten nichts.
Die Jagd auf Zugvögel in Schutzgebieten müsste daher umgehend von dem nun zuständigen „grünen“ Landwirtschaftsministerium beendet werden, die Salzwiesen überall im Nationalpark, so wie es die Naturschutzgesetze vorsehen, in einen naturnahen Zustand versetzt werden. Dies ist eine alte Forderung des Wattenrates Ostfriesland. Die Zugvogeltage werden ohne die Verbesserung der Lebensbedingungen für die beworbenen Zugvögel zur Selbstdarstellungs- und Propagandaaktion einer Nationalparkverwaltung, die sonst wenig für den Artenschutz, aber viel für den Tourismus wirbt.
Unser Mitarbeiter Eilert Voß, der nicht nur an „Zugvogeltagen“ unterwegs ist und rund ums Jahr mit sehr langen Brennweiten Vögel fotografiert, ohne zu stören, hatte das nachfolgende bemerkenswerte Erlebnis mit Vogelguckern des NABU, die wegen der Zugvogeltage auch einen Abstecher in die Niederlande an das Dollartwatt gemacht hatten. Diese Sorte „Vogelfreunde“ sind eigentlich die unangenehmsten, weil es ihnen nur um das gelungene Bild geht, ohne sich aber im Mindesten Gedanken um die Fluchtdistanzen und um den Erhalt der Lebensräume dieser Vogelarten zu machen. „Twitcher“ nennt man diese Spezies, denen es nur darum geht, so viele Vogelarten als möglich zu sehen und „abzuhaken“: Kamera aufbauen, den Vögeln auf die Pelle rücken, stören, abhaken, weiterziehen. Vor einigen Jahren wurde so eine sehr seltene Schneeeule von Twitchern vor einen Lastwagen getrieben.
„Am 05. Oktober hatte ich mein spezielles Erlebnis mit wild gewordenen Fotografen-Horden, die sich zu den Zugvogeltagen Richtung Küste bewegen. Nichts ahnend saß ich gestern um die Mittagszeit mit einigen Holländern in der Vogelguckhütte am Breebaart-Polder in der Provinz Groningen/NL unmittelbar am Dollart. Rings um uns herum Tausende Nonnengänse und Limikolen. Dazwischen spazierten Silber- und Graureiher. Regelmäßig gab es die imposanten Schwarmflüge von Alpenstrandläufern, direkt vor der Hütte, ohne dass die scheuen Vögel ahnten, dass sich in der Nähe Menschen befinden.
– Dann öffnete sich die Tür zur Guckbude und zwei mit einem Wohnmobil aus Unna angereiste NABU-Aktive betraten die Szene, packten ihr Fotogerät aus und setzten sich in die Reihe der Fotografen. Mit der Flut, die im Dollart alle Schlickbänke überspült, flogen immer mehr Wasservögel in den Polder ein und boten ein grandioses Schauspiel. Genauso stellen sich die Initiatoren der Zugvogeltage aus Fremdenverkehr, der Nationalparkverwaltung und dem NABU vor: den Vogelreichtum wahrnehmen und aus diesem Erlebnis heraus Aktivitäten zum Schutz letzter Refugien entwickeln (zumindest sollte das für den NABU allemal gelten).
Dann nahm das Verhängnis seinen Lauf! Dem etwa 70 jährigen NABU-Knipser aus Unna geschah in unmittelbarer Nähe von 15.000 Nonnengänsen ein Missgeschick, welches an sich kein großes Problem gewesen wäre: Ihm fiel nach Beendigung seiner Bildserie zum Vogelreichtum des Dollarts die Objektivkappe von der Linse und lag unerreichbar für den Fotografen direkt vor der Hütte. Da die aus Unna angereisten „Vogelfreunde“ noch andere Events an der Küste erleben wollten, verließen die Hütte. Doch was dann geschah verschlug allen Holländern und mir den Atem. Die NABU-Knipser stiegen über massive Absperrwände und liefen an den Schutzwänden entlang zur verloren gegangenen Objektivkappe.
Eine Panikflucht aller Vögel des Polders war die Folge. Einige Holländer waren ebenfalls von weither angereist um sich am Vogelreichtum zu erfreuen. Nach dieser bewusst in Kauf genommenen Vogelvertreibung sprach ich die Leute an und musste feststellen, dass keine Spur von Bedauern erkennbar war. Im Gegenteil, die NABU-Leute beschimpften mich und verteidigten ihr Handeln mit dem Hinweis, sie selbst hätten schon sehr viel für Vögel getan und ich solle mich nicht aufregen, denn sicherlich hätte ich einige Aufnahmen gemacht.
Genau das ist der Punkt: Nach dem Motto, „hab alles im Kasten“, fahren Vogelknipser von einem NSG zum anderen, stellen die Bilder ins Internet und beteiligen sich am Wettkampf, wer hat das schönste Vogelfoto. Irgendetwas läuft da schief.
Mit den offiziell ausgelobten Zugvogeltagen wird etwas losgetreten, was in seiner Wirkung in keinster Weise überschaubar ist. Solange es an der Küste kein funktionierendes Rangersystem gibt und es an den Anlaufstellen vom Vogeltourismus derartige Pannen geben kann, darf man zugunsten der Wertschöpfung im Tourismus das Tafelsilber der Region an Knipser und andere vermeintliche „Naturfreunde“ nicht verscherbeln.
Der beschriebene Vorfall ist nicht das einzige Fehlverhalten eines Natur-Touristen, der auf hochsensiblem Pfad des sowieso fragwürdigen „sanften“ Tourismus wandelt. An anderer Stelle fuhren Vogelgucker auf gesperrten Wegen bis auf die Kuppe des Dollartdeiches und verscheuchten auf diese Weise Watvögel von ihren Rastplätzen.
Ich bin mir sicher, dass die von mir beobachteten Störungen keine Einzelfälle geblieben sind. Dabei wäre alles so einfach gewesen: der Knipser hätte jemanden aus der Runde der Vogelgucker gebeten, nach Wegzug der Vögel aus dem Polder die Kappe zu holen und Richtung UNNA zu schicken.
So hätte ich das als Deutscher in einer Runde Holländer zumindest gemacht. Dieser Fall erinnert mich an den armen Gerfalken, der sich vor 5 Jahren 14 Tage am Dollart aufhielt. Auch dort musste ich erleben, dass mindestens 50 Vogelgucker dem seltenen Greif hinterher hechelten und ebenfalls ein angereister Knipser aus dem Ruhrpott ihn in die Flucht schlug.
Schlussbemerkung: Vogelguckhütten sind ja gut und schön, doch die bauliche Konzeption gehört in jedem Fall auf den Prüfstand, damit ähnliche Fälle nicht passieren können.“