Im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 13. Juni 2012 ließ Wirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) in einem Interview die Hosen herunter: Bei den bisher geplanten neuen 1.800 km „Stromautobahnen“, den Höchstspannungsleitungen zur Netzanbindung der Offshore-Windkraftwerke, will er getroffene Entscheidungen „zügig umsetzen“ und „die Verkürzung des Rechtswegs auf eine Gerichtsinstanz“ durchsetzen, was nichts anders heißt, für einen politischen Zeitgewinn die Bürgerbeteiligung zu erschweren. Auch das geltende europäische Naturschutzrecht, die Natura-2000-Richtlinien, sieht er als Planungshemmnis an, er will da „ran“ und diese „auf Zeit außer Kraft setzen“:
„Darüber müssen wir mit der EU reden. Auf Fachebene laufen die Gespräche. Dabei geht es vor allem um die Fauna-Flora-Habitat- sowie die Vogelschutz-Richtlinie. Da müssen wir ran. Jedem Beteiligten muss klar sein, dass wir auf die Herausforderungen der Energiewende auch unbequeme Antworten geben müssen. Auch das gehört zur Ehrlichkeit dazu. Uns wäre bereits geholfen, wenn wir zum Beispiel beim Durchqueren von Schutzgebieten einen Teil der EU-Regeln auf Zeit außer Kraft setzen könnten.“
Auf dieser „Fachebene“ wurden in Ostfriesland bereits vor Jahren Naturschutzvorgaben der EU außer Kraft gesetzt, als der Wind“park“ „Wybelsumer Polder“ in einer „Important Bird Area“ (IBA) und „faktischem Vogelschutzgebiet“ am Dollart bei Emden zügig durchgepeitscht wurde.
Auch der Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer wurde 2001, als Sigmar Gabriel (SPD) Ministerpräsident in Niedersachsen war, durch die Änderung des Nationalparkgesetzes tourisimuskonform umgestaltet und ca. 90 für den Naturschutz wertvolle Gebiete in der Zonierung herabgestuft oder aus dem Nationalpark herausgenommen. Diese „Fachgespräche“ mit der EU haben allen Anschein nach immer zum gewünschten Erfolg geführt, sich stets gegen den Naturschutz durchgesetzt. Sie zeigen auch, welchen Wert die Natura-2000-Richtlinien in der Praxis haben: Sie sind bedrucktes Papier.
Nun entpuppt sich die „Energiewende“ als der Weg in den Energie-Totalitarismus, der diese Kopfgeburt über alles stellt, im wahrsten Sinne des Wortes ohne Rücksicht auf Verluste. Man darf gespannt sein auf die Reaktionen der großen Naturschutzverbände, wenn denn welche kommen, die diese „Energiewende“ bisher vehement unterstützten.
Die kleine „Gesellschaft zur Erhaltung der Eulen“ (EGE) hat Herrn Röslers angekündigte Grausamkeiten aufgegriffen, mit freundlicher Genehmigung der Eulenfreunde drucken wir deren Text hier ab:
Prinzen sehen anders aus – Juni 2012
Die FDP hat sich in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen über die Fünf-Prozent-Hürde retten können. Wer sich von ihr allerdings im Bund einen Beitrag zu energiepolitischer Vernunft hat versprechen lassen, dürfte sich hart getäuscht sehen. Im Gespräch mit der Frankfurter Zeitung kündigt der Parteivorsitzende Philipp Rösler keine energiepolitische Reflexion an, sondern die Durchsetzung der Energiewende gegen europäisches Naturschutzrecht: „Dabei geht es vor allem um die Flora-Fauna-Habitat- sowie die Vogelschutzrichtlinie. Da müssen wir ran. Jedem Beteiligten muss klar sein, dass wir auf die Herausforderungen der Energiewende auch unbequeme Antworten geben müssen“, zitiert die Zeitung am 13.06.2012 Rösler. Und weiter: „Uns wäre bereits geholfen, wenn wir zum Beispiel beim Durchqueren von Schutzgebieten einen Teil der EU-Regeln auf Zeit außer Kraft setzen könnten.“
Deutschland stehen neben dem Bau von Windenergieanlagen an Land und auf See, dem Bau von Pumpspeicherkraftwerken, Biogasanlagen und einem noch Mehr an Maisanbau 4.000 Kilometer neuer Hoch- und Höchstspannungsleitungen bevor. Tatsächlich muss schon heute – auch ohne Abbau naturschutzrechtlicher Standards – der Bau dieser Leitungen keineswegs am Netz europäischer Naturschutzgebiete scheitern. Geraten die beiden Netze in Konflikt, hat der Naturschutz das Nachsehen. Jedenfalls dann, wenn sich der Netzausbau als alternativlos erweisen sollte und zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses ihn erfordern. Diese Spielregeln sollten auch dem Wirtschaftsminister bekannt sein. Ersatzweise könnte er sich beim Bundesumweltminister oder der Parteifreundin Bundesjustizministerin aufklären lassen. Oder stehen die Alternativlosigkeit oder die zwingenden Gründe vielleicht doch im Zweifel?
Die Errichtung des als „Natura 2000“ bezeichneten Schutzgebietsnetzes, das in Deutschland 15 Prozent der Landfläche ausmacht, hatte die Europäische Gemeinschaft übrigens vor genau 20 Jahren gesetzlich beschlossen und seinen Aufbau vielerorts erst gegen Widerstände aus deutscher Politik und Wirtschaft durchgesetzt. Deutschland hatte für diesen Widerstand die Verträge verletzt und war deswegen vom Europäischen Gerichtshof verurteilt worden. Dabei ist das Netz bis heute kein Netz im Wortsinne, sondern eher eine Ansammlung isolierter Einzelgebiete, deren Schutz kollektiven und elitären Interessen in diesem Lande nach wie vor müheselig abgetrotzt werden muss.
Mit Blick auf den 20. Geburtstag der FFH-Richtlinie ist die Ankündigung des „netten Herrn Rösler“, dem sonst eine gewisse Nähe zu Fröschen nachgesagt wird, ein Geburtstagsgeschenk der besonderen Art. Überdies will Rösler auch die Rechte der Bürger beschneiden, sich bei behördlichen Entscheidungen zum Netzausbau Gehör und gegebenenfalls Recht bei Gericht zu verschaffen. Die FDP ist offenkundig nicht nur von ihrem umwelt- und europarechtlichen Kurs abgekommen, sondern steht nun auch ohne bürgerrechtlichen Kompass dar. Beim diesjährigen Dreikönigstreffen der Liberalen war dem Vorsitzenden der nach Mitgliederzahl und Wählergunst beispiellos geschrumpften Partei außer einem wirren Bekenntnis zum Wachstum kaum etwas eingefallen. Der von der Bundesregierung eingesetzte Sachverständigenrat für Umweltfragen hat in seinem vor wenigen Tagen vorgelegten Umweltgutachten 2012 „Verantwortung in einer begrenzten Welt“ unter der Überschrift „Die neue Wachstumsdebatte“ den heillos undifferenzierten Wachstumsgedanken Röslers eine klare Absage erteilt.
Röslers Drängen und Werben auf europäischer Ebene, man möge den Liberalen freie Hand geben fürs Absenken der Errungenschaften des gemeinschaftlichen Naturschutzrechts, dürfte in Europa auf so große Zustimmung nicht stoßen. Vermutlich schon gar nicht für einen deutschen Sonderweg und ein Anliegen, das in der Gemeinschaft kaum jemand nachvollziehen kann.
Vielleicht schafft die FDP es, ihre Forderungen über die Sommerpause zu retten. Dann mag sich der 31. Deutsche Naturschutztag (DNT) 2012 im September in Erfurt mit dem liberalen Gedankengut befassen, steht doch die fünftägige Veranstaltung unter dem Motto „Neue Energien – Neue Herausforderungen: Naturschutz in Zeiten der Energiewende.“ Klicken Sie bitte hier (pdf-Datei, ca. 1,60 MB), wenn Sie das Programm des DNT 2012 einsehen möchten, von dem man noch nicht sagen kann, ob es in der Auseinandersetzung mit der Energiewende die Sache des Naturschutzes stärken wird. Profilierte Kritiker der Energiewende aus dem Naturschutz findet man in dem Programm eher nicht. Vielleicht, weil es sie nicht gibt.