Graugänse in Ostfriesland: Jägerlatein im EU-Vogelschutzgebiet

Graugans (Anser anser)

Die ostfriesischen Jäger der Landesjägerschaft Niedersachsen und die im Bezirksfischereiverband für Ostfriesland (BVO) organisierten Sportangler machen mobil gegen die Graugans.

Am 16. Mai 2012 fand eine Bereisung mit dem Präsidenten der Landesjägerschaft Helmut Dammann-Tamke (CDU, MdL) statt, die die Jäger und Sportangler zwar ohne Waffen und Angelrute auch auf eine Brutinsel der Graugänse im „Kleinen Meer“ (Hieve) bei Emden führte. Hier brüten, relativ sicher vor Fuchs und Marder, ca. 260-280 Grauganspaare. Nicht sicher aber waren die Gänse vor den per Boot angereisten Jägern und Fischern, die ihren eigenen Berichterstatter der Ostfriesen Zeitung (OZ), den Redakteur Fritz Harders mitgebracht hatten, der ebenfalls Jäger ist.

Screenshot: (Bildzitat) Ostfriesen Zeitung, online, 18. Mai 2012

Ziel der kampagnenhaften Berichterstattung war es, auf die vorgebliche Übervermehrung und Schädlichkeit von Graugänsen für die Landwirtschaft und die Binngewässer aufmerksam zu machen. Ein Artikel erschien in der OZ am 18. Mai „Fischer fordern Jagd auf Gänse“, ein zusätzlicher ganzseitige Zeitungsartikel, ebenfalls von Fritz Harders, erschien am 26. Mai 2012 in der Ostfriesen Zeitung: „Nicht Gans oder gar nicht – weniger ist das Ziel- Immer mehr Graugänse brüten an Ostfrieslands Binnenmeeren / Jäger wollen Bestandsregulierung durch Bejagung“.

Graugänse sind jagdbar, haben aber derzeit Schonzeit, aber das Betreten einer Brutinsel ist auch ohne Naturschutzverordnung nicht gestattet. Das Bundesnaturschutzgesetz verbietet die Störung von „besonders geschützten“ Tierarten wie die Graugans an ihren Zufluchtstätten, geschieht dies gewerblich, kann es als Straftat geahndet werden. Die Brutinsel im „Kleinen Meer“ ist Bestandteil des EU-Vogelschutzgebietes „Ostfriesische Meere“, gemeint sind u.a. die Binnenseen „Großes Meer“ und „Kleines Meer“, nicht das offene Meer.

Auf einem großen Bild des OZ-Zeitungsberichtes  vom 26. Mai ist deutlich eine fliehende Graugansfamilie mit flugunfähigen Jungvögeln zu sehen. Auf der Webseite http://www.borssum.com/Stichelweb/Kleines%20Meer/Kleines%20Meer.html (Der Beitrag wurde nach Veröffentlichung dieses Wattenrat-Berichtes entfernt!) werden die  von den Altvögeln verlassenen Nester mit den Jungvögeln gezeigt, die durch die Störung schutzlos Möwen oder Krähen ausgeliefert sind. Die Besuchergruppe der „Naturschützer“ in lodengrün hatte die Elterntiere vertrieben.

Screenshot (Bildzitat): Brutinsel der "Hieve": keine "angespülten" Gänseeier, sondern "egg-dumps". Quelle: http://www.borssum.com/Stichelweb/Kleines%20Meer/Kleines%20Meer.html:

Gezeigt werden auch angeblich „von einem Hochwasser aus mehreren Gelegen zusammengetriebene“  Eieransammlungen (OZ vom 26.05) . Diese Eierhaufen wurden aber nicht vom Wasser zusammengetrieben (Hochwasser gibt es auf diesem Binnensee ohnehin nicht) , sondern  sog. „egg-dumps“. Es sind Eier, die die Gänse zunächst in ein fremdes Nest gelegt haben. Werden zu viele Eier in das Nest von anderen Gänsen hinzugelegt, gibt die ursprüngliche Gans das Nest auf, aus diesen Eiern schlüpft kein Nachwuchs mehr. Diese „egg-dumps“ sind Teil der natürlichen, dichteabhängigen Bestandsregulation: Gibt es zu wenig Brutplätze, werden die Eier so zu großen Haufen „verklappt“. Egg-dumps sind auch von Schneegänsen auf der sibirischen Wrangel-Insel bekannt, auch bei Kanadagänsen wurde dieses Verhalten beobachtet. Und von den bebrüteten Eiern und geschlüpften Jungvögeln werden weniger als 50 Prozent flügge Gänse.  Kälte, Nässe oder Prädatoren lassen die Bestände nicht in den Himmel wachsen.

Kleines Meer, Brutinsel, Luftbild 15. April 2012: 260-280 Graugansnester (rote Kreise), die weißen Flecken sind "egg-dumps". Mit freundlicher Genehmigung des " Institute for Wetlands and Waterfowl Research (IWWR) e.V. Germany"

Der Jäger und Zeitungsredakteur der Ostfriesen Zeitung berichtetet zudem von angeblichen Fraßschäden durch Gänse in Ostfriesland, die aber in diesem Winter nachweislich durch langanhaltenden Frost im Februar und nicht durch Gänse verursacht wurden. Diese Frostschäden am Getreide wurden in diesem Jahr bundesweit festgestellt und haben mit Gänsefraß nichts zu tun. Für tatsächlich festgestellte Fraßschäden bekommen Landwirte ohnehin Ausgleichszahlungen, wenn sie am Vertragsnaturschutz teilnehmen.  Auch für die Gewässerverunreinigung durch Kot sollen die Gänse verantwortlich sein. Völlig ausgeblendet in der Berichterstattung wurde aber, dass die Bauern (die oft auch Jäger sind) tonnenweise Gülle in die Landschaft sprühen, häufig auch verbotswidrig bei gefrorenem Boden, und so massiv zur Gewässerverunreinigung beitragen.

Zweifellos haben Graugänse, aber nicht alle Gänsearten, wieder zugenommen und sind wieder wahrnehmbarer Bestandteil der Landschaft geworden, nachdem sie jahrhundertelang gnadenlos verfolgt wurden. Die Ursachen liegen auch in der Nutzungsänderung von Grünland in Ackerland mit starkem Getreideanbau und dem damit veränderten Nahrungsangebot für die Gänse. Es war die Jägerschaft in Niedersachsen selbst, die mit staatlichen Förderprogrammen in den achtziger Jahren die Graugänse wieder in die Landschaft aussetzte. Richtig ist, und das wird auch von der Jägerschaft moniert, dass die Salzwiesen des Nationalparks Niedersächsisches Wattenmeer an der Küste als Äsungsflächen für Gänse komplett augefallen sind. Die Salzwiesen werden nicht mehr beweidet, sind zu stark entwässert und häufig flächendeckend mit Quecke überwuchert, man nennt das öko-ideologisch „Natur Natur sein lassen“, mit allen negativen Folgen für intakte Salzwiesen. Die gebotene Verpflichtung nach den Natura-2000-Richtlinien zur Gewährleistung eines  „günstigen Erhaltungszustandes“ der Salzwiesen in den EU-Vogelschutz- und FFH-Gebieten wird vom Land Niedersachsen nicht eingehalten. Eine extensive Beweidung mit qualifiziertem Salzwiesenmanagment, das es nicht gibt, könnten in der Tat neue (alte) Äsungsflächen für Gänse geschaffen werden.

Die interessengeleiteten presseöffentlichen Fehlbeurteilungen durch die Hobbyjäger und -fischer am Beispiel der „Hieve“ beweisen aber wieder einmal, dass die Jäger der Landesjägerschaft und die Sportfischer sich zwar „anerkannter“ Naturschutzverband nennen dürfen, aber kaum über  naturschutzfachliche Kompetenzen und noch nicht einmal über rudimentäre Kenntnisse der natürliche Bestandregulation von Gänsen verfügen, wie andere Jagdverbände sie haben. Mit der „Bereisung“ und Vertreibung der Brutvögel auf der „Hieve“ haben sich die jagenden und fischenden Naturnutzer selbst disqualifiziert.

In den vergangenen Jahren machten die ostfriesischen Jäger Schlagzeilen, als bekannt wurde, dass sie zu tausenden Krähen in Fallen erschlugen, um angeblich Wiesenvögel damit zu „retten“, oder verbotswidrig bei Dunkelheit und Nebel in einem Naturschutzgebiet an der Ems bei diesen Sichtverhältnissen nicht unterscheidbare nordische Gänse bejagten. Die Sportfischer führten eine Kampagne gegen den Kormoran, der nun einmal Fische frisst, aber eben nicht selektiv die Bratpfannenfische der Hobbyangler. Das notorische Forum der Jagdzeitung „Wild und Hund“ befasste sich ebenfalls mit den Graugänsen und der Bereisung am „Kleinen Meer“. Man kann den Eindruck gewinnen, dass sich hier Schädlingsbekämpfer oder bloße Schießer auslassen, die die Natur nur aus dem engen Blickwinkel über den Flintenlauf wahrnehmen; Naturschützer oder „edle Waidmänner“ sind es mit Sicherheit nicht.

Ostfriesen Zeitung, S.10, 26. Mai 2012

 Nicht Gans oder gar nicht – weniger ist das Ziel Immer mehr Graugänse brüten an Ostfrieslands Binnenmeeren / Jäger wollen Bestandsregulierung durch Bejagung

Bild: Mehrere Elterntiere ziehen ihren Nachwuchs gemeinsam groß und bilden eine Art Kindergarten. Am Großen und am Kleinen Meer wachsen in diesem Frühjahr wieder tausende Gössel heran, die das Gänseproblem weiter verschärfen, zumal die Sterblichkeitsrate bei den jungen Gänsen äußerst gering ist, wie der Emder Kreisjägermeister Uwe Kampenga sagt. […]

Der Vorsitzende der Emder Jägerschaft, Frank Radke, hatte den Präsidenten zu einer  Bereisung eingeladen, um ihm die Folgen der aus seiner Sicht überbordenden Gänsebestände in Ostfriesland vor Augen zu führen. Nicht nur die Landwirtschaft, sondern auch die Fischerei leidet mittlerweile unter den Folgen der wachsenden Gänsebestände.[…] Der hohe Koteintrag hunderter brütender Gänsepaare und mehrerer tausend Gänse, die in der Region überwintern, führe in den flachen Binnenmeeren inzwischen zu einer spürbaren Verschlechterung der  Wasserqualität. Werner Klasing: „Ohne eine Regulierung der Gänsebestände sind immer wiederkehrende Blaualgenblüten, Fischsterben und eine Einschränkung der touristischenNutzung kaum noch zu vermeiden.“ […]

Bild: Allein auf einer kleinen Schilfinsel am Kleinen Meer fanden sich einige Dutzend solcher Eieransammlungen, die von einem Hochwasser aus mehreren Gelegen zusammengetrieben worden waren. Die Gänse haben nachgelegt. BILDER: HARDERS

Bereits 2007, vor der Änderung der Jagdzeiten für Gänse in Niedersachsen im Sinne der Jäger und Landwirte, regte sich wissenschaftlicher Widerstand gegen den erweiterten Gänseabschuss, der bei politischen Entscheidungsrägern kaum Beachtung fand:

Deutsche Ornithologen-Gesellschaft (DO-G) Projektgruppe „Gänseökologie“
Prof. Dr. Hans-Heiner Bergmann

An
Ministerpräsident Christian Wulff
Umweltminister Hans-Heinrich Sander
Landwirtschaftsminister Hans-Heinrich Ehlen
Bejagung von Wildgänsen
Bad Arolsen, den 11.5.2007

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Wulff ,
wie wir der Presse (Niederelbezeitung 31.3.2007) entnehmen, besteht im Niedersächsischen Ministerium für den ländlichen Raum, Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz die Absicht, die Jagdzeiten für Grau- und Kanadagans auszuweiten und Jagdzeiten für andere Arten wie Blässgans, Saatgans oder Ringelgans einzuführen.

Die Projektgruppe Gänseökologie der Deutschen Ornithologen-Gesellschaft (DO-G), ein bundesweiter Zusammenschluß aus Gänseschützern und -wissenschaftlern weist diese Vorhaben entschieden zurück.
Die Blässgans ist zwar die häufigste der bei uns überwinternden arktischen Gänse, doch ist sie an Zahl etwa der Stockente weit unterlegen. In ihren Scharen verbergen sich die ähnlichen Zwerggänse, die vom Aussterben bedroht sind und für die derzeit aufwändige und viel beachtete Wiederansiedlungsprojekte laufen. Dieses Projekt zum Erhalt der durch EU Recht streng geschützten Art wird vom Bundesamt für Naturschutz (BfN) sowie dem Niedersächsischen Umweltministerium unterstützt. Bei der Bejagung kann man die beiden Arten nicht voneinander unterscheiden. Die Saatgänse sind weniger häufig. In ihren Gruppen treten die häufigere Tundrasaatgans und die hochgradig gefährdete, seltene Waldsaatgans zusammen auf. Bei einer Bejagung werden beide betroffen. Sowohl die Bestände der Tundrasaatgans als auch die der Blässgans stagnieren seit mehr als zehn Jahren. Die Dunkelbäuchige Ringelgans, ein Brutvogel der sibirischen Eismeerküste, hat im vergangenen Jahrzehnt drastisch um mehr als ein Drittel ihres Bestandes abgenommen. Ohnehin machen die Bestände dieser Arten heute nur noch einen Bruchteil dessen aus, was vor den beiden Weltkriegen und der landwirtschaftlichen Intensivierung im letzten Jahrhundert einst in Norddeutschland vorkam.

Außer der Gefährdungssituation gibt es eine Reihe von weiteren wichtigen Argumenten gegen die Bejagung der Gänse, wie zum Beispiel die frühzeitige Zerstörung der Familien (Junggänse bleiben mindestens den ganzen ersten Winter im Familienverband), die Erhöhung der Fluchtdistanzen und damit die Konzentrierung auf ungestörten und damit umso mehr beweideten Flächen. Weitere Argumente sind in unserem kürzlich erschienenen Buch „Wilde Gänse“ zusammengestellt, das wir Ihnen zur freundlichen Kenntnisnahme beilegen.

Das Bundesland Niedersachsen spielt mit seinen Rastgebieten für die Gänsepopulationen eine wichtige Rolle. Ihm fällt daher eine besondere, durch internationale Konventionen unterstrichene Verantwortung für diese wandernden Vögel zu, die einen wichtigen Teil des niedersächsischen Naturerbes darstellen. Viele Menschen besuchen die Rastgebiete, um sich an diesem einzigartigen Naturphänomen zu erfreuen. Daraus ist regional ein regelrechter Gänsetourismus entstanden, der sich durch die Fördermittel von EU und Land Niedersachsen zu einem Wirtschaftsfaktor entwickelt.

Die Bejagung ist für solch eine Entwicklung kontraproduktiv, weil sie die Vögel scheu macht, so dass sie sich der Beobachtung entziehen.

Niedersachsen hat mit dem Vertragsnaturschutz ein ausgezeichnetes Mittel entwickelt, um die lokalen Konflikte mit der Landwirtschaft zu entschärfen, die durch die weidenden Gänse entstehen können. Das Nachbarland Belgien zeigt sogar, dass man gänzlich ohne Gänsejagd auskommen kann. Das Bundesland Niedersachsen sollte mit seinem wertvollen Naturerbe weiterhin so schonend umgehen wie bisher, die Instrumente des Vertragsnaturschutzes nutzen und den Gänsen ihren Lebensraum zubilligen, den sie seit jeher in Norddeutschland zur Verfügung hatten. Derzeit nimmt Niedersachsen neben Nordrhein-Westfalen eine Vorbildrolle unter den deutschen Bundesländern ein, die auch international Beachtung findet. Wir fordern Sie auf, dies nicht durch Maßnahmen gefährden zu lassen, die weder landwirtschaftliche Probleme lösen noch naturschutzfachlich gebilligt werden können.
Mit freundlichen Grüßen
Prof. Dr. Hans-Heiner Bergmann
– Sprecher der Projektgruppe Gänseökologie –
Anlage: Buch
Bergmann, Kruckenberg, Wille: Wilde Gänse – Wanderer zwischen Wildnis und Weideland. Braun Verlag, Karlsruhe

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