Heute wird in der Tagespresse verkündet, dass es „noch nie so viele Seehunde im Wattenmeer“ gab, mit der Einschränkung „seit dem Beginn der Seehundzählungen 1958“. Die niedersächsische Jägerschaft, die die Erfassung finanziert, zählt seit Jahren aus Flugzeugen synchron mit Schleswig-Holstein, den Niederlanden und Dänemark den Seehundbestand im Wattenmeer. Koordiniert wird die Seehundzählung vom Niedersächsischen Landesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (LAVES). Im niedersächsischen Wattenmeer wurden in diesem Jahr 6623 Seehunde, davon 1648 Jungtiere gezählt. In den Meldungen wird nicht zwischen Seehunden und Kegelrobben unterschieden. Ein Grund zum Jubeln? Vergleicht man die Bestandszahlen über einen längeren Zeitraum, ist diese Zahl gar nicht so groß.
Der niederländische Robbenforscher Peter Reijnders hat historische Daten ausgewertet und ermittelte für die Nordsee zu Beginn des 19. Jahrhunderts einen Bestand von ca. 39.000 Tieren. Er stellte fest, dass diese Zahl unter den heutigen Bedingungen mit intensiver Fischerei, starkem Schiffsverkehr und den Tourismusbelastungen, also Störungen an den Ruheplätzen, heute nicht wieder erreicht werden können.
Im 19. Jahrhundert begann die starke Verfolgung des Seehundes als vermeintlicher Nahrungskonkurrent der Fischer, es wurde offen die Ausrottung der Tiere propagiert, und die Bestände wurden an den Rand der Ausrottung gebracht. Noch bis 1971 wurde der Seehund in Niedersachsen bejagt, bis 1973 in Schleswig-Holstein und bis 1977 in Dänemark. Der Seehundbstand litt aber auch nach der Einsstellung der Jagd erheblich an Umweltgiften wie PCB, die das Immunsystem der Tiere schwächten. 1988 und 2002 brachen die Seehundbestände durch einen hundestaupeähnlichen Virus (PDV = Phocine Distemper Virus) ein, bis zu zweidrittel des Bestandes starb. 2007 flammte in Dänemark kurz eine neue Epidemie auf.
Aus der Fischereiwirtschaft verlautete, die Seuche habe die Bestände auf ihre „natürliche Größe“ gebracht, was völliger Unsinn ist. Erfreulich ist aber, dass sich die Bestände so schnell erholt haben. Heute ist der Seehund der Sympathieträger für die Tourismusindustrie. Die Jägerschaft, vom Saulus zum Paulus gewandelt, hätschelt heute imagefördernd verlassene Junghunde, die Heuler, in der Seehundaufzuchtstation in Norden/Norddeich im Landkreis Aurich. Die dann wieder ausgesetzten Junghunde haben aber nichts mit der Stabilisierung des Seehundbestandes zu tun. Die Heuleraufzucht ist wissenschaftlich sehr umstritten. Das nach wie vor geringe geringe Wissen über die Bedürfnisse und die Verbreitung der Seehunde in ihrem eigentlichen Lebensraum, dem Meer, wird dadurch nicht ergänzt. Man befürchtet auch den Eintrag von Keimen aus der Aufzuchtstation in die freilebenden Populationen.
Durch internationale Vereinbarungen müsste die Zahl der vom Menschen aufgezogenen Seehunde eigentlich drastisch zurückgehen, tat es aber nicht. In der Erklärung von Leeuwarden von 1994 haben sich die Wattenmeer-Anrainer-Länder verpflichtet, die Zahl der Robben, die aus dem Wattenmeer entnommen und wieder freigelassen werden, auf den „niedrigst-möglichen Stand“ zu bringen. Im Jahre 2001 wurde ein „Robben-Management-Plan 2002-2006“ beschlossen. In Pieterburen und in Norddeich stiegen die Zahlen vor einigen Jahren aber noch an. In der niederländischen Station Pieterburen wurden schon freilebende Kegelrobben-Jungtiere gezielt gekidnapped, um sie in der Station zu präsentieren. Auch die Station in Norden/Norddeich war illegaler Abnehmer von überschüssigen Kegelrobben der niederländischen Station, die so viele Tiere gar nicht versorgen konnte. So wurde der Seehund zur Ware für die Tourismusindustrie und das Image der Jägerschaft. Das Licht der Tagespresse erblickten diese Meldungen nicht!