Wattenrat

Ost-Friesland

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Startseite > Aktuelles > Artikel Nr. 138 (Dezember 2005)

Der Seehund als Ware

Mutterlose Seehunde als Ware für die Tourismusindustrie
Über den Sinn und Unsinn von Seehundaufzuchtstationen

Seehundaufzuchtsstationen in den Niederlanden und in Deutschland sind wahre Tourismusmagneten, der Seehund wird dabei zur Ware: auch aus der Natur gekidnapped, in eine Seehundstation verschleppt, gegen Bares ausgestellt und dann zurückverfrachtet in die Nordsee.

In Pieterburen/NL, in Norddeich/Ostfriesland und in Friedrichskoog/Schleswig-Holstein kann man dann diese rundköpfigen Tierbabys mit den Kulleraugen, flink mit flotten Namen versehen, gegen Gebühr betrachten. Vordergründig wird daraus ein guter Zweck gemacht, und für die Landesjägerschaft Niedersachsen, die in Norddeich die dortige Seehundaufzuchtstation betreibt, fällt sogar noch ein Imagegewinn ab.

Seehunde auf einer Sandbank
Seehunde auf der Sandbank (Photo: © Wattenrat)

Die Population der Kegelrobbe zwischen Terschelling und Vlieland in den Niederlanden wurde von Mitarbeitern der Pieterburener Station systematisch abgesucht und viele Jungtiere aus der Natur gekidnapped, um diese anschließend als "mutterlose und verlassenen Jungtiere" auszustellen. Dabei legen Kegelrobbenmütter ihre Jungen trocken auf Sandbänken oder in Dünen ab, weil diese Jungtiere, anders als der Seehund,in den ersten Lebenswochen ein Embryonalfell tragen und in dieser Zeit das Wasser meiden. So können sie leicht als "mutterlos" eingesammelt werden, wenn die Robbenmütter auf Nahrungssuche im Wasser sind.

Offensichtlich nimmt der Bestand der Kegelrobben auch im niedersächsischen Wattenmeer langsam wieder zu, bei Zählflügen im Dezember 2005 wurden auf der ungenutzten Kachelotplate bei Memmert 19 neugeborene und 23 erwachsene Tiere gezählt.


Kegelrobbenbaby (Photo: © Armin Meywald)

Da Kegelrobbenjunge auch in geschützten Dünenbereichen der stark belaufenen Touristeninseln abgelegt werden, ist mit weiteren Störungen und in der Konsequenz auch mit der unnötigen Einlieferungen dieser Robbenbabys durch "Tierfreunde" in die Seehundaufzuchtstation in Norddeich zu rechnen. Von der Insel Borkum wurde bereits die erste Kegelrobbe nach Norddeich verfrachtet.

"Gerettet" werden müssen der Seehund und die Kegelrobbe also keinesfalls, nur in Ruhe gelassen werden!

Lesen Sie dazu einen aktuellen Artikel aus der Ostfriesen Zeitung, eine Pressemitteilung der Nationalparkverwaltung und einen Auszug aus dem Buch von Armin Maywald: Die Welt der Seehunde, Verlag Soltau-Kurier-Norden, 2002. Dieses Buch wurde übrigens von der Seehundaufzuchtstation in Norden/Norddeich nicht zum Verkauf angeboten.

Ostfriesen-Zeitung, Leer 24.12.2005:

"Sibylle" wird in Norddeich aufgepäppelt

NATUR Kegelrobben-Heuler seit einer Woche in der Seehundaufzuchtstation / Auf Borkum gefunden

Norddeich - Die Seehundstation in Norddeich hat die erste Kegelrobbe der Saison aufgenommen. "Sibylle" wurde bereits am vergangenen Sonntag von Heinz Meuser, einem ehrenamtlichen Mitarbeiter der Station, auf Borkum entdeckt und versorgt. "Sibylle" ist etwa zehn Tage alt und wiegt 12,6 Kilo. Zu wenig, findet Stationsleiter Peter Lienau. Wahrscheinlich habe der Sturm des vergangenen Wochenendes das Jungtier von der Mutter getrennt. "Der Name wurde von der Patin Sibylle Bischof aus Weyhe ausgesucht", so Lienau.

Fünf Tage lang sei der Neuankömmling in der neuen Quarantänestation versorgt worden, bis alle Untersuchungen positiv abgeschlossen gewesen seien. Jetzt könne "Sibylle" aufgezogen und voraussichtlich im März wieder ausgewildert werden. Lienau: "Sie erfreut sich mittlerweile bester Gesundheit." [...]

Nationalparkverwaltung, Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer Nr. 14 / 30. Dezember 2005 Presseinformation:

"Weihnachtsgeschenk" für den Nationalpark

Erstmals Kegelrobben-Nachwuchs im niedersächsischen Wattenmeer

Gute Nachrichten brachte ein Mitarbeiter der Nationalparkverwaltung in Wilhelmshaven von einem Zählflug in der letzten Dezemberwoche mit. Auf der Kachelotplate, einer hoch gelegenen Sandbank westlich von Juist, wurden 19 neugeborene und 23 erwachsene Kegelrobben entdeckt. Damit bestätigt sich der seit einigen Jahren abzeichnende Trend zur Rückkehr der Kegelrobbe ins Wattenmeer, die früher hier regelmäßig vorkam, vor einigen Jahrhunderten aber aus der südlichen Nordsee verschwand. Um die aktuelle Entwicklung zu dokumentieren, führt die Nationalparkverwaltung, in bewährter Zusammenarbeit mit erfahrenen Seehundzählern, in diesem Winter mehrere Zählflüge durch.

Die Kegelrobben bringen ihre Jungen mit dem charakteristischen weißen Fell zwischen November und Januar an hochwassergeschützten Stränden zur Welt. Einige Wochen lang werden sie dort gesäugt und legen sich eine isolierende Fettschicht zu, bevor sie nach dem Fellwechsel ins Wasser gehen.

Dass die Kegelrobben sich gerade die Kachelotplate als Wurf- und Aufzuchtplatz ausgesucht haben, ist kein Zufall. Frei von menschlichem Zutun haben sich dort durch Sandanlandung in den letzten Jahren quadratkilometergroße hochwasserfreie Flächen entwickelt. Durch die Unzugänglichkeit und abgeschiedene Lage in der besonders geschützten Ruhezone des Nationalparks ist die Kachelotplate somit eine ideale Kinderstube für Kegelrobben. Hier sind sie sicher vor ungewollten Störungen, die an den Stränden der bewohnten Inseln nicht ausgeschlossen werden können.

Aber auch die Strände der Inseln sind in hohem Maße attraktiv für die Kegelrobben, wie gelegentliche Jungtier-Funde zeigen. Daher auch der Appell der Nationalparkverwaltung: Wenn Sie zu dieser Jahreszeit Robben hoch auf dem Strand finden, halten Sie weiten Abstand! Melden Sie Ihre Beobachtung beim nächsten Nationalparkhaus oder der Gemeinde- bzw. Kurverwaltung. Ohne Störungen steigen die Chancen, dass sich zukünftig auch hier Kegelrobben-Kolonien ansiedeln und damit für viele Menschen eine Naturbegegnung der besonderen Art möglich wird.

Und nun Armin Maywald in seinem Buch "Die Welt der Seehunde, S.114 und S.120:

[...] Die Methoden der Pieterburener "Seehundfreunde" haben sich seither nicht geändert. Sie bringen auch die niederländische Regierung in Verlegenheit, weil sie internationale Übereinkünfte mißachten. In der Erklärung von Leeuwarden von 1994 haben sich die Wattenmeer-Anrainer-Länder verpflichtet, die Zahl der Robben, die aus dem Wattenmeer entnommen und wieder freigelassen werden, auf den "niedrigst-möglichen Stand" zu bringen. Im Jahre 2001 wurde ein "Robben-Management-Plan 2002-2006" beschlossen und dieses Ziel noch einmal "ausdrücklich bestätigt".

Demnach müßte die Zahl der eingelieferten Robben von Jahr zu Jahr abnehmen. Davon ist man in Pieterburen weit entfernt. Bereits im Januar 1999 quoll die Station mit knapp 80 Kegelrobben-Pfleglingen fast über, so daß 15 Kegelrobben kurzerhand in die Seehundaufzucht- und Forschungsstation Norden-Norddeich verfrachtet wurden. "Eine nette Geste", gewinnt Peter Lienau, seit Oktober 1999 Geschäftsführer der Station, der kollegialen Hilfe seines Vorgängers noch etwas Harmloses ab, gibt aber zu: "Eigentlich sollte das nicht sein."

Tatsächlich verstößt schon die Aus- und Einfuhr der Robben gegen nationale Vorschriften, doch entsprechende Genehmigungen hätten vorgelegen, versichert Lienau. Bleibt zu fragen, warum die Behörden hierzulande noch Genehmigungen erteilen, die nicht gerade vom Geist der Ministererklärung von Leeuwarden beseelt sind.

Im Jahr 2001 haben die Betreiber der Station in Pieterburen sich selbst übertroffen. Mehr als 310 Robben wurden durch die Station geschleust, darunter 150 Kegelrobben, 160 Seehunde, aber auch wattenmeerfremde Arten wie Klappmütze, Ringelrobbe und Sattelrobbe. Robbenarten aus Gebieten, die außerhalb des Wattenmeeres liegen, sollten nicht in Aufzuchtzentren aufgenommen werden, haben die Umweltminister in Esbjerg 2001 beschlossen. Hoch sei das Risiko, Infektionskrankheiten einzuschleppen und nach dem Freilassen der Robben die wildlebenden Bestände anzustecken. In Pieterburen kümmert das niemanden. Mehr als die Hälfte des gesamten Nachwuchses, den die Kegelrobbenkolonie zwischen Terschelling und Vlieland in einem Winter hervorgebracht hat, wurde in die Station verschleppt, gekidnappt ohne vernünftigen Grund: "Eine haarsträubende Entwicklung", findet Uilke van der Meer vom Wattenrat in Ostfriesland und Kenner der holländischen Szene: "In Pieterburen ist blinder Übereifer am Werk, der der Sache des Naturschutzes und den Tieren schweren Schaden zufügt." Wer Arten schützen will, sollte auch sterbende Robben am Strand ertragen können, denn ohne Sterben gibt es kein Leben. Robbenaufzucht ist widernatürlich, denn natürliche Auslese wird durch künstliche Aufzucht ausgeschaltet. Es ist die Aufgabe der drei Wattenmeer-Nationalparke hierzulande, den ungestörten Ablauf natürlicher Vorgänge zu gewährleisten. Dazu gehört auch der Tod junger Robben. Langfristig sollte man prüfen, ob hierzulande die Aufzucht von Seehunden und Kegelrobben überhaupt noch sinnvoll und zu verantworten ist - den Robben zuliebe.
[...]

Das Wattenmeer zu schützen ist ein Anliegen aller Anrainerländer. Die Umweltminister der Niederlande, Dänemarks und Deutschlands treffen sich regelmäßig zu "Trilateralen Regierungskonferenzen", um den Wattenmeerschutz aufeinander abzustimmen und voranzubringen. 1991 trat das "Abkommen zum Schutz der Seehunde im Wattenmeer" in Kraft, auf dessen Basis wurde 1994 in Leeuwarden ein Management-Plan für Wattenmeer-Seehunde 1996-2000 beschlossen. Darin sind erstmals konkrete Aufträge an die Staaten erteilt worden, die es in sich haben. So sollen die Niederlande und Deutschland in der Ems-Dollart-Region Seehund-Schutzgebiete ausweisen; beiden Ländern wurde auferlegt, die Ausflugsfahrten zu den Seehundsbänken zu regulieren; wobei Schleswig-Holstein seine bisherige Praxis überprüfen soll. Außerdem bekamen beide Länder zur Aufgabe, ausführliche Kriterien für die Heuleraufzucht einzuführen.

Im Jahre 2001 trafen sich die Robbenexperten der drei Länder, um den alten Management-Plan zu überarbeiten. Herausgekommen ist ein Seal-Management-Plan 2002-2006, der auf der trilateralen Wattenmeerkonferenz der Umweltminister in Esbjerg im Oktober 2001 angenommen und beschlossen wurde. Die Empfehlungen der Minister und ihre Erläuterungen lesen sich wie eine lange Liste von Versäumnissen im Robbenschutz. Einige Beispiele: Wieder empfehlen die Minister, in der Ems-Dollart-Region Seehund-Schutzgebiete einzurichten und zu betreuen. Darüber hinaus müßten generell mehr Seehund-Schutzgebiete ausgewiesen werden - es würden einfach mehr gebraucht.

Die Nahrungsökologie des Seehundes, seine Ansprüche an den Lebensraum sollen mit "höchster Priorität" erforscht werden. Für Seehundausflugsfahrten müßten trilaterale Richtlinien entwickelt werden; dabei gelte es, den Abstand zu den Liegeplätzen, die Geschwindigkeit der Boote festzulegen; Wurfkolonien mit säugenden Jungtieren dürften gar nicht aufgesucht werden.

Mit "Nachdruck" empfehlen die Minister, die Zahl aus dem Wattenmeer entnommener und wieder freigelassener Robben auf das "niedrigst mögliche Niveau" zu senken. Und mit Nachdruck wird die niederländische Regierung aufgefordert, alles Nötige zu unternehmen, um die Zahl der Robben deutlich zu senken, die vom Robbenzentrum in Pieterburen aus der Natur entnommen wird; darüber hinaus sollten in kurzer Zeit strenge Richtlinien und Kriterien für die Entnahme von Robben entwickelt werden.

Mit Nachdruck empfehlen die Minister, die Entnahme und Aufzucht von anderen Robbenarten als Seehund und Kegelrobbe in Seehundstationen zu verbieten. Und sie empfehlen, die Öffentlichkeit zu informieren über die Ziele des Robben-Abkommens, des Robben-Management-Planes und der Ansichten über Robbenaufzucht. Dabei soll darauf hingewiesen werden, wie notwendig es ist, für das oberste Ziel einzustehen: das Wattenmeer bei allen beschlossenen Maßnahmen als Naturraum zu behandeln, in den sich der Mensch so wenig wie irgend möglich einmischen sollte.


Kegelrobbenjungtier (Photo: © Armin Meywald)

 
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